Quantcast
Channel: Recht Archives - Vergabeblog

Intransparente Eignungskriterien führen zur Wiederholung der Ausschreibung (OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 28.09.2023 – 11 Verg 2/23)

0
0
Liefer- & Dienstleistungen

EntscheidungIntransparent sind Eignungskriterien auch dann, wenn das Verständnis der Vergabestelle von der Auslegung aus Sicht eines verständigen, durchschnittlich erfahrenen Bieters abweicht. Bei intransparenten Eignungskriterien ist das Ausschreibungsverfahren in den Zustand vor der Ausschreibung zurückzuversetzen, weil der Senat nicht anstelle der Vergabestelle eigene Eignungskriterien aufstellen kann.

§§ 97 Abs. 1, Abs. 6, 122 Abs. 4 GWB

Sachverhalt

Die Vergabestelle schrieb die Abholung und Verwertung von Bioabfällen in einem offenen Verfahren aus. Nach Versendung der Vorabinformationsschreiben rügte die spätere Beigeladene die mangelnde Eignung des Zuschlagsprätendenten. Sie war der Meinung, dass der Zuschlagsprätendent nicht über hinreichende Referenzen verfüge und auch die technischen Voraussetzungen für die ordnungsgemäße Verwertung von Bioabfällen nicht erfülle.

Der Zuschlagsprätendent hat die Transportleistungen selbst angeboten und für die Verwertung einen Nachunternehmer benannt. Bei den benannten Referenzen hatte er sich für die Verwertungsleistungen ebenfalls eines Nachunternehmers bedient.

Die Entscheidung

Nachdem die Vergabekammer den Nachprüfungsantrag zurückgewiesen hatte (siehe ) gab ihm das OLG nunmehr statt.

Es stützt seine Entscheidung im Wesentlichen darauf, dass die Vergabestelle die Mindestanforderungen an die Referenzen anders interpretiert hatte als sie aus Sicht eines verständigen, durchschnittlich erfahrenen Bieters hätten verstanden werden müssen. Dies stellt nach Auffassung des OLG einen Verstoß gegen das Transparenzgebot dar.

Das OLG ordnet deswegen eine Wiederholung des Ausschreibungsverfahrens an, da es selbst keine Eignungskriterien aufstellen könne. Weitere noch unklare Rechtsfragen musste das OLG damit nicht mehr entscheiden.

Dazu zählte vor allem die Frage, ob die angegebenen Referenzaufträge in ihren Kernelementen in Eigenleistung erbracht worden sein müssen oder ob es zum Beispiel ausreicht, wenn Kernelemente bei dem Referenzauftrag von Nachunternehmern erbracht worden sind. Spannend wäre auch zu hören gewesen, welche Angaben in Abhängigkeit davon notwendig sind ob ein Nachunternehmer eingesetzt werden soll oder es sich um eine Eignungsleihe handelt. Auch Hinweise für die Anforderungen an die Vergleichbarkeit von Referenzen wären hilfreich gewesen.

Rechtliche Würdigung

Die Vergabestelle hatte die Eignungskriterien anders ausgelegt, als sie aus Sicht eines verständigen, durchschnittlich erfahrenen Bieters zu verstanden gewesen wären. Warum daraus eine Intransparenz folgen soll, ist aus dogmatischer Sicht nicht so ganz nachzuvollziehen. Warum hat das OLG denn nicht seine Auslegung als verbindlich vorgegeben und die Vergabestelle verpflichtet, die Wertung unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer zu wiederholen? Oder warum hat sie nicht den Schluss gezogen, dass Unklarheiten nicht zu Lasten der Bieter gehen können und den Nachprüfungsantrag – so wie die Vergabekammer – zurückgewiesen. So klar war die Auslegungsfrage auch nicht zu beantworten, hatte doch die Vergabekammer und auch das OLG selbst in seinem Eilbeschluss das noch anders bewertet.

Im Ergebnis hat das OLG wohl eine Lösung gesucht, bei der es für beide Beteiligten des Nachprüfungsverfahrens noch einmal eine neue Chance gibt. Im Sinne des Rechtsfriedens daher eine pragmatische Entscheidung, wobei die Begründung nicht wirklich vollends zu überzeugen vermag.

Dass das OLG zu den weiteren spannenden Rechtsfragen keine Ausführungen mehr gemacht hat ist schade, aber natürlich sehr gut nachvollziehbar.

Der Autor hat den Antragsgegner in dem Vergabenachprüfungsverfahren vertreten.

Praxistipp

Bei der Formulierung von Mindestanforderungen an Referenzaufträge kann man offenbar nicht sorgfältig genug sein. Immerhin handelte es sich bei der hier verwendeten Beschreibung um eine häufig und lange verwendete Formulierung, die in keinem bisherigen Verfahren Aufklärungsfragen oder gar Verfahrensrügen ausgelöst hatte. Wenn man Mindestbedingungen an Referenzen aufstellt sollten diese wohl bedacht sein.

Unterlässt man das und fordert, wie viele Formulare das vorsehen, drei vergleichbare Referenzen aus den vergangenen drei Jahren so hat man im Zweifel ein stumpfes Schwert in der Hand.

Bleibt die Frage, wann eine Referenz vergleichbar ist. In der mündlichen Verhandlung hatte sich die Antragstellerin darüber beschwert, die Vergabestellen würden die Frage der Vergleichbarkeit dazu nutzen, um willkürliche Entscheidung über den Ausschluss von Bietern zu treffen. Die Forderung der Bieter lautet also offenbar: Definiert, wann Referenzen vergleichbar sind. Angesichts der Vielfalt möglicher Ausschreibungsgegenstände und der Schwierigkeit der Aufgabe ist das aber in der Praxis aus meiner Sicht nicht zu leisten.

The post Intransparente Eignungskriterien führen zur Wiederholung der Ausschreibung (OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 28.09.2023 – 11 Verg 2/23) appeared first on Vergabeblog.


Vorzeitiger Maßnahmenbeginn bei geförderten Bauprojekten risikobehaftet! Entscheidend ist die gelebte Verwaltungspraxis zum Zuwendungszeitpunkt! (OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 08.09.2023 – 4 A 2549/20)

0
0
Bauleistungen

EntscheidungEin Bewilligungsbescheid wird nicht dadurch rechtswidrig, dass sich die Verwaltungspraxis später ändert. Die Rechtmäßigkeit eines Bewilligungsbescheides über eine Fördermaßnahme ist an der zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Bewilligung maßgeblichen Verwaltungspraxis zu messen. Eine spätere Änderung dieser Verwaltungspraxis lässt die Rechtmäßigkeit des Bewilligungsbescheides grundsätzlich unberührt. Das Verbot vorzeitigen Maßnahmebeginns ist nicht Gegenstand der Bestimmungen der §§ 23, 44 LHO-NW, sondern eine im Haushaltsrecht übliche Richtlinienbestimmung, mit der vorgenannten Bestimmungen für die Ermessenspraxis konkretisiert und handhabbar gemacht werden sollen.

§ 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG NRW; Art. 3 Abs. 1 GG; §§ 44 Abs. 1 Satz 1, 23 LHO NRW; Art. 6 Verordnung (EU) Nr. 651/2014

Leitsatz

1. Bei grundsätzlich förderfähigen Projekten, mit denen bereits vor Bewilligung von Fördermitteln begonnen wurde, entspricht es der Wahrscheinlichkeit, dass die zu fördernde Maßnahme auch ohne Förderung durchgeführt würde und es deshalb im Einzelfall keiner Förderung bedarf.

2. Wird in der Verwaltungspraxis einer Bewilligungsbehörde grundsätzlich bereits der Abschluss eines der Ausführung zuzurechnenden Lieferungs- oder Leistungsvertrags als Vorhabenbeginn gewertet, so kann es bei Vertragsschlüssen, die nur einen so geringen (förderschädlichen) Umfang haben, dass ihretwegen bei wirtschaftlicher Betrachtung ausnahmsweise nicht mit der ungeförderten Durchführung gerechnet werden kann, generell ermessensgerecht sein, trotz Abschlusses eines derartigen Vertrags (Teil-)Förderungen zu gewähren.

3. Ausgehend von der förderrechtlichen Praxis, wonach zudem bei Baumaßnahmen insbesondere die Planung nicht als Beginn des Vorhabens gilt, erscheint eine (Teil )Förderung von noch nicht ausgeschriebenen und beauftragten Bauvorhaben, über die bereits ein Ingenieur-Honorarvertrag auf der Grundlage von § 43 HOAI 2013 im Wesentlichen, aber nicht ausschließlich über Planungsleistungen abgeschlossen worden ist, sachgerecht und willkürfrei. Sie steht auch im Einklang mit dem förderrechtlichen Subsidiaritätsprinzip und dem haushaltsrechtlichen Gebot der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit.

4. Hat ein Fördermittelgeber nach seiner Verwaltungspraxis die Förderfähigkeit einer Maßnahme regelmäßig nicht vollständig versagt, wenn ihm bekannt war, dass der jeweilige Antragsteller vorzeitig einen Ingenieurvertrag auch über die HOAI-Leistungsphasen 1 bis 6 sowie mindestens eine der Phasen 7 bis 9 abgeschlossen hatte, erfolgt eine dieser Verwaltungspraxis entsprechende Bewilligung nicht rechtswidrig.

5. Die Vorschriften der Haushaltsordnungen über die Aufstellung und Ausführung des Haushaltsplans entfalten lediglich Bindungswirkung im Verhältnis der den Haushaltsplan aufstellenden und den Haushaltsplan ausführenden Staatsorgane zueinander und regeln nicht das Verhältnis zum Zuwendungsempfänger (Anschluss an BVerwG, Urteil vom 22.08.1986 – 3 B 47.85 -, NVwZ 1987, 55).

6. Das Verbot vorzeitigen Maßnahmebeginns ist nicht Gegenstand der Bestimmungen der §§ 23, 44 LHO-NW, sondern lediglich eine verwaltungspraktisch sinnvolle und im Haushaltsrecht übliche Richtlinienbestimmung auf der Ebene unterhalb des Gesetzesrechts, mit der die allgemeineren Vorgaben der §§ 23, 44 LHO-NW für die Ermessenspraxis konkretisiert und handhabbar gemacht werden sollen.

Sachverhalt

Die Klägerin Zuwendungsempfängerin wendete sich gegen die Rücknahme eines Bewilligungsbescheides als Teil eines Programms zur Förderung von Investitionsmaßnahmen bei dezentralen Niederschlagswasseranlagen. Der relevante Bewilligungsbescheid erfolgt auf Grundlage des Investitionsprogramms Ressourceneffiziente Abwasserentsorgung NRW. Bedingung der Inanspruchnahme der Förderung war dabei u.a., dass vor der etwaigen Bewilligung der Förderung kein Vorhabenbeginn erfolgen durfte.

In einem Förderrundbrief der Beklagten Bewilligungsbehörde äußerte diese, dass auch der vor Bewilligung erfolgte Abschluss eines HOAI-Honorarvertrages, der sich auf die Leistungsphasen 7 ff. bezieht, einen förderschädlichen Leistungsvertrag darstelle, es sei denn, es würde sich ein kostenfreier Rücktritt vorbehalten. Die Klägerin hatte gleichwohl einen HOAI-Honorarvertrag für die Leistungsphasen 7 und 8 geschlossen, einen kostenneutralen Rücktritt oder eine andere Möglichkeiten der kostenfreien Lösung vom Vertrag, behielt sich die Klägerin vertraglich nicht vor.

Die Beklagte teilte der Klägerin mit, dass der über die Leistungsphasen 7 und 8 geschlossene HOAI-Honorarvertrag nicht förderungsfähig sei, weshalb sich die beantragte Summe um diesen Anteil reduziere. Der Restbetrag blieb als förderungsfähig bestehen. Durch eine später aktualisierte Arbeitsanweisung sollte ein etwaiges Bauvorhaben seine Förderungsfähigkeit jedoch in Gänze verlieren, wenn ein HOAI-Honorarvertrag über die Leistungsphasen 8 und 9 geschlossen wird. Mit Rücknahmebescheid nahm die Beklagte daher den erfolgten Bewilligungsbescheid für die Vergangenheit zurück. Der Abschluss des HOAI-Honorarvertrages über die Leistungsphase 8 stelle demnach einen förderschädlichen Vorhabenbeginn da, ginge die Beauftragung dieser Leistungsphase doch über die Planung hinaus und sei vielmehr der Ausführung zuzurechnen.

Gegen diesen Rücknahmebescheid erhob die Klägerin Anfechtungsklage vor dem VG Düsseldorf. Nach Klageabweisung legte die Klägerin Berufung vor dem OVG NRW ein und beantragte, den  Rücknahmebescheid aufzuheben.

Die Beklagte beantragte, die Klage abzuweisen.

Die Entscheidung

Die Berufung der Klägerin war erfolgreich. Ihre zulässige Klage war begründet.

Einzig in Betracht kommende Rechtsgrundlage für den Rücknahmebescheid war § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG NRW. Danach kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

Der erlassene Zuwendungsbescheid war jedoch schon nicht rechtswidrig.

Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Zuwendungsbescheids ist dabei die Anwendung der Förderrichtlinie durch die zuständige Behörde im entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Erlasses des Zuwendungsbescheids. Gleichwohl ist die Verwaltungsvorschrift nicht wie eine Rechtsnorm aus sich heraus, sondern gemäß der von ihrem Urheber gebilligten oder doch geduldeten tatsächlichen Verwaltungspraxis auszulegen. Denn Förderrichtlinien sind keine Rechtssätze. Sie sollen lediglich die Ausübung des Verwaltungsermessens steuern und bewirken somit zunächst eine interne rechtliche Bindung des Verwaltungsermessens. Der bloße Verstoß gegen eine derartige Verwaltungsvorschrift macht eine Ermessensausübung daher nicht rechtswidrig, die bloße Beachtung nicht rechtmäßig. Die bewilligende Behörde hat einen Ermessensspielraum und insofern gewissermaßen Deutungshoheit über die maßgeblichen Verwaltungsvorschriften. Die Rücknahme einer Bewilligung kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Bewilligung gegen eine Rechtsnorm verstößt und daher nicht hätte erfolgen dürfen.

In dem Verhältnis zum Zuwendungsempfänger ist die Bewilligungsbehörde nur durch den Gleichheitsgrundsatz gebunden. Dies hat zur Folge, dass wenn sich die Bewilligungsbehörde an die Richtlinien hält, sie dies auch weiterhin zu tun hat, es sei denn, Gründe des Einzelfalles rechtfertigen oder gebieten eine Abweichung. Weicht die Behörde hingegen generell von den Förderungsrichtlinien ab, verlieren diese insoweit ihre ermessensbindende Wirkung. Maßgeblich für die Beurteilung, ob der Gleichbehandlungsgrundsatz gewahrt wurde, ist mithin die tatsächliche Verwaltungspraxis.

Der zurückgenommene Bescheid ist nicht entgegen der üblichen Verwaltungspraxis und nicht gleichheitswidrig ergangen. So entsprach der ursprünglich erlassene Zuwendungsbescheid unter Abzug der durch den HOAI-Honorarvertrag entstandenen Kosten der zu dem entscheidungserheblichen Zeitpunkt maßgeblichen (zumindest geduldeten) Verwaltungspraxis. Nach der Förderungsrichtlinie durfte vor dem Zeitpunkt der Bewilligung des Förderungsantrags kein Beginn mit der zu fördernden Maßnahme erfolgen. Maßgeblich für die Beurteilung dessen war, ob der Abschluss eines der Ausführung zuzurechnenden Lieferungs- oder Leistungsvertrags vorlag. Lag ein solcher Vertrag vor, war dies als Vorhabenbeginn zu werten. Dabei galt bei Baumaßnahmen die Planung grundsätzlich nicht als Beginn des Vorhabens, wovon auch die Beklagte ausging. Mithin sah die Beklagte die Leistungsphasen 1 bis 6 (Vorbereitung der Vergabe) HOAI als förderunschädliche Planung an, während die Leistungsphasen 7 (Mitwirkung bei der Vergabe) und 8 (Bauoberleitung) HOAI zum Vorhabenbeginn zählte. Nach der damaligen Verwaltungspraxis der Beklagten führte der Abschluss von Verträgen über die Leistungsphase 7 bis 9 mithin nicht zu einer vollständigen Versagung der Förderung, sondern vielmehr zu einer wie erfolgten Reduzierung der Förderungssumme um die als nicht förderfähig angesehenen Kosten. Dementsprechend sah es auch die zu dem Zeitpunkt der Entscheidung aktuelle Arbeitsanweisung vor.

Der Einwand der Beklagten, die vorliegend zu beurteilende Verwaltungspraxis stünde mit der Verwaltungspraxis in anderen Förderprogrammen in Widerspruch, greift nicht durch, da in anderen Förderprogrammen naturgemäß auch andere Förderrichtlinien zu Grunde gelegt werden.

Aufgrund der Feststellung des BVerwG (u.a. im Urteil vom 25.04.2012 zum Az. 8 C 18.11, BVerwGE 143, 50), dass der bloße Verstoß gegen eine Verwaltungsvorschrift, die das Ermessen der Behörde steuern soll, eine Ermessensausübung nicht rechtswidrig mache, ließ es der Senat offen, ob ein Verstoß der Bewilligungsbehörde gegen das Verbot des vorzeitigen Maßnahmebeginns aus der Förderrichtlinie vorlag. Eine allenfalls relevante willkürliche Handhabung war für das OVG jedenfalls nicht ersichtlich. Genauso wenig lag eine so offenkundige Zweckverfehlung vor, dass angenommen werden könnte, die Förderung sei willkürlich von den Richtlinienvorgaben (und dem Sinn und Zweck des Verbots vorzeitigen Maßnahmebeginns) abgewichen.

Der Zuwendungsbescheid ist auch nicht wegen § 44 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 23 LHO NRW rechtswidrig. Eine etwaige Rechtswidrigkeit aufgrund dieser Bestimmungen scheitert schon daran, dass diese Normen der Haushaltsordnung lediglich eine Bindungswirkung im Verhältnis der den Haushaltsplan aufstellenden und den Haushaltsplan ausführenden Staatsorgane zueinander und nicht das Verhältnis zu dem Zuwendungsempfänger regeln. Selbst wenn etwas anderes angenommen würde, läge ein Verstoß gegen § 44 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 23 LHO NRW nicht vor. Der in diesen Normen zum Ausdruck kommende Subsidiaritätsgrundsatz soll verhindern, dass öffentliche Mittel einem Antragsteller gewährt werden, der sie nicht benötigt. Dies ist bei der Klägerin jedoch nach Ansicht der OVG nicht der Fall, liegt es doch nahe, dass sie ohne die Förderung die Baumaßnahme nicht umgesetzt hätte. Dies wird auch daran deutlich, dass die nicht durch die Förderung abgedeckten Leistungen für die HOAI-Honorarverträge im Verhältnis zur Gesamtsumme sehr gering sind und somit nicht mal eine indizielle Bedeutung dergestalt erlangen, die Klägerin benötigte die Förderung zur Umsetzung ihres Vorhabens nicht. Dies hindert die Beklagte gleichwohl nicht daran, für die Zukunft derartige Vertragsgestaltungen als grundsätzlich förderschädlich zu betrachten. Eine zwingende Vorgabe für die Bewilligungspraxis lässt sich §§ 44 I, 23 LHO NRW nicht entnehmen.

Rechtliche Würdigung

Das OVG NRW nimmt zur sehr praxisrelevanten Bedeutung des Verbots des vorzeitigen Maßnahmebeginns im Zuwendungsrecht ausführlich (und nach Auffassung des Verfassers überzeugend) Stellung und hat mangels einer höchstrichterlichen Grundsatzentscheidung sowie der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache die Revision zugelassen.

Von entscheidender Bedeutung für das Urteil des OVG NRW war dessen Auffassung betreffend die Bedeutung der Verwaltungspraxis. Zunächst stellt das Gericht zutreffend fest, dass maßgeblicher Zeitpunkt hinsichtlich der Rechtslage bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Bewilligungsbescheides, der sein muss, in dem die Bewilligung erfolgt. Anderenfalls würde einerseits große Rechtsunsicherheit drohen. Zum anderen wären wie hier nach dem vorliegenden Sachverhalt anschaulich zu sehen Zuwendungsempfänger einem nicht mehr kalkulierbarem wirtschaftlichem Risiko ausgesetzt. Für diese Auffassung streitet auch der Gedanke des Rückwirkungsverbots. Zudem würde es der Willkür der Behörde obliegen, nachträglich Bewilligungsbescheide über § 48 VwVfG zurücknehmen zu können, genügte schon die Änderung der Verwaltungspraxis. Dies ist verwaltungsverfahrensrechtlich nicht vertretbar.

Zudem ordnet das Gericht die Normqualität zutreffend ein. Bei verwaltungsinternen Handlungsanweisungen für die Ermessensausübung kommt es auch auf die tatsächliche Verwaltungspraxis an. Eine etwaige Duldung eines den Anweisungen für die Ermessensausübung widersprechenden Verhaltens kann die Bindung der Behörde an ihre eigene Handlungsanweisung mithin deutlich schwächen. Dies ist mit der Qualität als bloßes Verwaltungsinternum zu erklären, auf welches der Bürger selbst mangels Außenwirkung keinen Zugriff hat. Um dem Gleichheitsgrundsatz zu genügen und Rechtssicherheit herzustellen, muss sich die bewilligende Behörde daher maßgeblich an ihrer nach außen hin gelebten Verwaltungspraxis messen lassen.

Weiter zutreffend stellt das Gericht die Wirkung der §§ 44 Abs. 1, 23 LHO NRW fest. Die Bestimmungen regeln nicht das Verhältnis zum Zuwendungsempfänger! Gleichwohl ist diese Frage durchaus umstritten. Eine widerstreitende Ansicht ist der Auffassung, die Bestimmungen bezüglich der Ausführung des Haushaltsplans seien eine rechtsverbindliche und gerichtlich voll nachprüfbare Schranke für die Zuwendungsgewährung (in diesem Sinne zum Beispiel OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 23.08.2011 zum Az. 2 A 10453/11 und dem folgend VG Köln, Urteil vom 03.09.2015 zum Az. 16 K 2428/14). Diese Auffassung überzeugt nicht. Die Argumentation des OVG NRW ist schlüssig und insbesondere für den vorliegenden Fall zutreffend. So ist das Verbot vorzeitigen Maßnahmebeginns tatsächlich nicht selbst Gegenstand der Regelungen in §§ 23, 44 LHO, sondern ergibt sich vielmehr aus einer verwaltungsinternen Richtlinienbestimmung, welche unterhalb des Gesetzesrechts stehen und lediglich eine Unterstützung für die Ermessensausübung bieten sollen.

Weiter argumentiert das OVG NRW systematisch nachvollziehbar damit, dass die Vorschriften der §§ 23, 44 LHO NRW, entsprechend den Überschriften des Teils II und III der LHO NRW, Vorschriften zur Aufstellung und Ausführung des Haushaltsplanes darstellen. Gem. § 3 Abs. 2 LHO NRW, wonach der Haushaltsplan Ansprüche und Verbindlichkeiten weder begründet noch aufhebt, handelt es sich bei zuvor genannten Normen lediglich um innenrechtliche Vorschriften, welche keine Außenwirkung im Verhältnis von Bewilligungsbehörde und Zuwendungsempfänger auslösen (können).

Praxistipp

Jedem Zuwendungsempfänger ist dringend anzuraten, das Verbot des vorzeitigen Maßnahmebeginns und deren Ausgestaltung im konkreten Zuwendungsverhältnis im Blick zu haben. Dies gilt insbesondere bei geförderten Baumaßnahmen und diesbezüglichen Planungsleistungen. Zwar hat das OVG NRW für diesen Fall klargestellt, dass die Rücknahme eines Bewilligungsbescheides nach § 48 VwVfG nicht dadurch möglich ist, dass der Bescheid infolge einer geänderten Verwaltungspraxis rechtswidrig wird. Gleichwohl hat das Gericht ausdrücklich festgestellt, dass es der bewilligenden Behörde freisteht, nach eigenen Vorstellungen Handlungsanweisungen zu erstellen, welche im Zuge der Bewilligung ermessensleitend sind. Je nach Anknüpfungszeitpunkt kann die Schwelle zum Maßnahmebeginn bei Baumaßnahmen mithin bereits frühzeitig bei Abschluss bestimmter Planerverträge (und Leistungsphasen) überschritten werden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die internen Handlungsanweisungen/ Verwaltungsvorschriften mit der tatsächlichen nach außen hin gelebten Verwaltungspraxis übereinstimmen. Der Zuwendungsgeber, mithin die Bewilligungsbehörde, auf der anderen Seite sollte möglichst sicherstellen, dass die internen Regeln mit der Verwaltungspraxis in Einklang stehen.

The post Vorzeitiger Maßnahmenbeginn bei geförderten Bauprojekten risikobehaftet! Entscheidend ist die gelebte Verwaltungspraxis zum Zuwendungszeitpunkt! (OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 08.09.2023 – 4 A 2549/20) appeared first on Vergabeblog.

Vergabekammer goes digital: Vollautomatisierte Beschlüsse im Nachprüfungsverfahren?

0
0

Mit zunehmenden Erwartungen an Verfahrensbeschleunigung, Verfahrenserleichterungen und Rationalisierung, bewegt sich die deutsche Gerichtsbarkeit nicht zuletzt durch elektronische Postfächer, eAkten und Videoverhandlungen immer stärkerer in Richtung Digitalisierung. Vor diesem Hintergrund stellen sich regelmäßig rechtliche Umsetzungsfragen. Können in der vergaberechtlichen Nachprüfung solche Erwägungen auch für die Arbeit der Vergabekammern angestellt werden, um bei hohen Arbeitsbelastungen schneller, einfacher und digitaler Entscheidungen treffen zu können?

I. Ausgangslage

Gemäß § 156 Abs. 1, 2 GWB nehmen Vergabekammern die Nachprüfung der Vergabe öffentlicher Aufträge und Konzessionen des Bundes bzw. der Länder wahr. Insbesondere Rechte aus § 97 Abs. 6 GWB können nur vor den Vergabekammern und dem Beschwerdegericht geltend gemacht werden. Die Vergabekammern entscheiden nach Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens durch Beschlüsse. Diese stellen gemäß § 168 Abs. 3 S. 1 GWB Verwaltungsakte dar. Wenngleich die Vergabekammern gerichtsähnlich tätig werden, sind sie dennoch der Verwaltung zuzuordnen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die interessante Frage, ob auf Beschlüsse der Vergabekammern die Regelungen der §§ 35, 35a VwVfG Anwendung finden können, die es unter Umständen erlauben, diese Beschlüsse zumindest in Teilbereichen vollständig durch automatisierte Einrichtungen zu erlassen. Zugegebenermaßen erscheint diese Vorstellung unter Berücksichtigung der doch eher schleppenden Digitalisierung in Deutschland auf den ersten Blick zwar zumindest zweifelhaft bis utopisch. Dennoch bleibt die Frage, ob eine automatisierte Nachprüfung rechtlich mit § 35a VwVfG vereinbar wäre.

II . Entscheidungsform der Vergabekammer

Entscheidungen der Vergabekammern ergehen gemäß § 168 Abs. 3 S. 1 GWB durch Verwaltungsakt. Das hat den Hintergrund, dass die Vergabekammer kein Gericht, sondern eine Verwaltungsbehörde ist. Das Nachprüfungsverfahren ist kein Gerichtsverfahren, sondern lediglich ein gerichtsähnlich ausgestaltetes Verwaltungsverfahren im Sinne des § 9 VwVfG. Die logische Folge ist daher, dass die, ein Nachprüfungsverfahren abschließende Entscheidung, als Verwaltungsakt nach § 35 VwVfG ergeht. Unter den Begriff der Entscheidung fällt jedoch nur die das Nachprüfungsverfahren abschließende Entscheidung der Vergabekammer, folglich der Beschluss (OLG Düsseldorf, Beschluss v. 12.05.2011, Verg 32/11; Antweiler, in: Burgi/Dreher/Opitz, Beck’scher Vergaberechtskommentar, § 168 GWB, Rn. 72f.). Das gilt auch für Fortsetzungsfeststellungsentscheidungen und Verfahrenseinstellungen (Fett, in: MüKo, Wettbewerbsrecht, § 168 GWB, Rn. 70).

Bei der Tätigkeit der Vergabekammer handelt es sich wie bei der Tätigkeit der Kartellbehörden um Rechtspflegetätigkeit. Die Vorschriften des GWB, die das Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer als Rechtsbehelfsverfahren regeln, sind öffentlich-rechtlicher Natur. Es gelten daher, soweit das GWB keine spezielleren Bestimmungen trifft, die Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes und der Länder, nach denen der Verwaltungsakt übereinstimmend definiert wird als „jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist“ (Dreher, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, § 168 GWB, Rn. 63).

III. Vollautomatisierte Verwaltungsakte nach § 35a VwVfG

Zunächst losgelöst von der Frage der Anwendbarkeit auf Nachprüfungsverfahren, kann gemäß § 35a VwVfG ein Verwaltungsakt (in einem „gewöhnlichen“ Verwaltungsverfahren nach dem VwVfG) „vollständig durch automatisierte Einrichtungen erlassen werden, sofern dies durch Rechtsvorschrift zugelassen ist und weder ein Ermessen noch ein Beurteilungsspielraum besteht.“

Die Vorschrift stellt zunächst klar, dass es sich bei solchen vollautomatisierten Verwaltungsakten auch um Verwaltungsakte handelt, was sonst mangels menschlicher Willensbetätigung wegen der Begriffsbestimmung in § 35 VwVfG fraglich sein könnte (Prell, in: BeckOK, VwVfG, § 35a, Rn. 1).

Die Frage ist eingangs, welche Voraussetzungen an die Zulässigkeit des Erlasses eines vollautomatisierten Verwaltungsakts im Einzelnen zu stellen sind, um im zweiten Schritt die Anwendbarkeit auf Vergabekammer-Beschlüsse zu beleuchten.

1. „Vollautomatisierte Einrichtungen“

Gemeint ist jeweils die Verwendung technischer Einrichtungen, die nach vorher festgelegten Parametern autonom, das heißt ohne weiteres menschliches Einwirken, funktionieren. In der Regel handelt es sich um EDV-Anlagen; die Vorschrift ist aber technikoffen und enthält in Hinblick auf den Aufbau und die Funktionsweise solcher automatischen Einrichtungen keine weiteren Vorgaben oder Einschränkungen. Auch wenn von Verwaltungsbediensteten die zum ordnungsgemäßen Betrieb erforderlichen Maßnahmen zur Einrichtung, Kontrolle und Fehlerkorrektur ausgeführt werden, ändert das nichts am Charakter einer automatischen Einrichtung iSd. Vorschrift (Prell, in: BeckOK, VwVfG, § 35a, Rn. 5).

Voraussetzung für einen vollautomatischen VA-Erlass ist nicht, dass alle entscheidungserheblichen Daten bereits bei der Verwaltung vorliegen. Auch wenn diese – etwa im Antragsverfahren vom Antragsteller – von außen in das Verfahren eingespeist werden, ist eine vollständig automatisierte Bearbeitung iSd. § 35a VwVfG möglich. Entscheidend ist das Fehlen einer personellen Bearbeitung bei allen Verfahrensschritten innerhalb der Verwaltung (Ziekow, in Ziekow: VwVfG, § 35a Rn. 6; Prell, in: BeckOK, VwVfG, § 35a, Rn. 6).

Nach seinem Wortlaut regelt § 35a VwVfG zwar den „vollständig automatisierten Erlass“ von Verwaltungsakten und schließt damit deren Bekanntgabe ein. Nach Sinn und Zweck der Vorschrift kann aber eine nicht-automatisierte Bekanntgabe eines im Übrigen vollautomatisch erstellten Verwaltungsakts nicht dazu führen, § 35a VwVfG nicht anzuwenden. Gesetzesvorbehalt und die Beschränkung auf gebundene Entscheidung können nicht etwa umgangen werden, wenn ein vollautomatisch erstellter Verwaltungsakt z. B. per Boten bekanntgegeben wird (Prell, in: BeckOK, VwVfG, § 35a, Rn. 3).

2. „durch Rechtsvorschrift zugelassen“

Verwaltungsakte dürfen im Anwendungsbereich des VwVfG nur dann in einem vollständig automatisierten Verfahren erlassen werden, wenn dies durch Rechtsvorschrift zugelassen wird. Es bedarf somit einer Ermächtigung durch Gesetz oder Verordnung. (Prell, in: BeckOK, VwVfG, § 35a, Rn. 11). Mit dem Rechtsvorschriftenvorbehalt wollte der Gesetzgeber die Auswahl der für die automatisierte Entscheidung geeigneten Verfahren dem Normgeber vorbehalten. Die normvollziehende Verwaltungsstelle soll dies nicht eigenmächtig im Verwaltungsverfahren entscheiden dürfen (Glaesner/Leymann, in: Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, Rn. 11). Der Gesetzesvorbehalt trägt auch dem grundsätzliches Verbot Rechnung, jemanden einer im vollständig automatisierten Verfahren ergehenden Entscheidung mit Rechtswirkung zu unterwerfen (vgl. Art. 22 Abs. 1 DS-GVO).

Das Fehlen der nach § 35a erforderlichen Ermächtigung, den Bescheid in einem vollständig automatisierten Verfahren zu erlassen, führt zur Rechtswidrigkeit aber für sich genommen nicht zur Nichtigkeit (OVG Münster, Beschluss v. 10.12.2021, 2 A 51/21).

3. „weder Ermessen noch Beurteilungsspielraum“

Der vollständig automatisierte Erlass ist ausgeschlossen, wenn das anzuwendende Recht Entscheidungsspielräume vorsieht (Prell, in: BeckOK, VwVfG, § 35a, Rn. 1). Ein vollständig automatisierter VA-Erlass kommt nur bei gebundenen Entscheidungen in Frage. Nur bei diesen ist ein vollständiger Verzicht auf eine personelle Bearbeitung vertretbar, weil eine eindeutige Zuordnung von Rechtsfolge zu dem festgestellten Sachverhalt möglich ist.

Sowohl die Ausübung eines Ermessens als auch die Ausfüllung eines Beurteilungsspielraums erfordern dagegen eine individuelle Abwägung und Willensbetätigung. Der Ausschluss bezieht sich ausdrücklich nur auf Ermessensentscheidungen und Verfahren, in denen ein Beurteilungsspielraum besteht, also auf Verfahren, in denen gerichtlich nur beschränkt überprüfbare Entscheidungen möglich sind. Aber auch der Vollzug von Vorschriften mit schwierig auszufüllenden unbestimmten Rechtsbegriffen kann zum Ausschluss eines vollautomatisierten Verfahrens führen (Prell, in: BeckOK, VwVfG, § 35a, Rn. 13). Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die Ausübung dieser Spielräume eine menschliche Willensbildung voraussetzt, die nicht im automatisieren Verfahren nachgebildet werden kann und selbst bei fortschreitender Technik daher nur bei gebundenen Entscheidungen zulässig ist (Begrenzungsfunktion; BT-Drs. 18/8434, S. 122).

IV. Vor- und Nachteile von vollautomatisierten Vergabekammer-Beschlüssen

Der Einsatz automatischer Einrichtungen dient der Verfahrensbeschleunigung, Ressourceneinsparung und Kostenreduzierung. Vor allem einfach strukturierte Verfahren können so mit geringerem Aufwand schnell erledigt werden.

Überdies ermöglicht sie neutrale, objektive und gleichheitswahrende Entscheidung sowie die Vermeidung menschlicher Flüchtigkeitsfehler und Fehleinschätzungen ohne Befangenheits-Problematik. (BT-Drs. 18/8434, 122; Guckelberger, in: FS Herberger, 397 (403 f.).

Automatisierung führt aber zwangsläufig zu Schematisierung. Individuelle Fallkonstellationen können von einem schematischen Prüfraster nur berücksichtigt werden, wenn sie bei der Einrichtung des jeweiligen Systems antizipiert werden konnten. Automatisierung birgt somit die Gefahr, dass bei vom Prüfschema abweichenden, nicht vorhergesehenen Fallgestaltungen rechtswidrige Verwaltungsakte erlassen werden.

Mit der § 35a flankierenden Ergänzung in § 24 VwVfG wird deshalb klargestellt, dass für den Einzelfall bedeutsame tatsächliche Angaben des Betroffenen auch bei vollautomatisierten Verfahren berücksichtigt werden müssen. Bei individuellem Vortrag muss demnach eine Aussteuerung und eine weitere Bearbeitung außerhalb des automatisierten Verfahrens möglich sein (Prell, in: BeckOK, VwVfG, § 35a, Rn. 18). Durch das Korrektiv des § 24 Abs. 1 S. 3 VwVfG in Ergänzung zu § 163 GWB im Hinblick auf den Untersuchungsgrundsatz wäre dies jedoch bei vollautomatisierten Beschlüssen sichergestellt.

Neben der Gefahr von Einschränkungen von Verfahrensrechten der Betroffenen und negativen Folgen einer Schematisierung für die Adressaten ergeben sich auch Risiken für Verwaltung und Gesetzgeber. Eines liegt im Steuerungsaufwand vor allem komplexer Systeme. Er kann dazu führen, dass Rechtsänderungen oder erforderliche Reaktionen auf Rechtsprechung oder aufsichtliche Weisungen nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung vollzogen werden können. Im Extremfall kann das dazu führen, dass die betroffene Verwaltung zeitweise handlungsunfähig wird, wenn sie nicht wissentlich falsche und damit rechtswidrige Ergebnisse produzieren will. Wo im herkömmlichen Verfahren häufig ein schnelles Umsteuern per Weisung möglich ist, bedarf es bei automatisierten Verfahren unter Umständen einer zeitaufwändigen Umprogrammierung und anschließender Probeläufe, bevor ein ordnungsgemäßer Gesetzesvollzug wieder gewährleistet ist (Prell, in: BeckOK, VwVfG, § 35a, Rn. 20f.).

V. Anwendbarkeit von § 35a VwVfG auf Entscheidungen der Vergabekammer iSd. § 168 Abs. 3 S. 1 GWB?

Unter Berücksichtigung oben genannter Vor- und Nachteile sowie rechtlicher Grundlagen, wird daher die interessante Frage aufgeworfen, ob der Beschluss einer Vergabekammer, der gemäß § 168 Abs. 3 S. 1 GWB in Verwaltungsaktform ergeht, im Wege des vollautomatisierten Erlasses iSd. § 35a VwVfG ergehen kann, weil dieser eine solche Möglichkeit für Verwaltungsakte verwaltungsverfahrensrechtlich vorsieht.

Die Möglichkeit eines vollautomatisierten Erlasses eines Beschlusses durch die Vergabekammer ist zumindest ausdrücklich oder konkret nicht aus den vorhandenen EU-Richtlinien, Vergabegesetzen oder Vergabeordnungen ersichtlich. Auch aus der Systematik oder Historie der vergaberechtlichen Rechtsgrundlagen ist, insbesondere vor dem Hintergrund der immer noch schleppend fortschreitenden Digitalisierung, nicht erkennbar, dass der Richtliniengeber bzw. Gesetzgeber eine Vollautomatisierung des Erlasses von Vergabekammer-Beschlüssen offensichtlich im Blick hatte.

Vielmehr ist § 35a VwVfG für das „gewöhnliche“ Verwaltungsverfahren geschaffen worden, das im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit ihren Instanzen einer Überprüfung auf Rechtmäßigkeit unterzogen werden kann. Aus der Gesetzesbegründung zu § 35a VwVfG kann nicht herausgelesen werden, dass dieser mit Blick auf ein vergaberechtliches Spezialrechtsschutzverfahren für Nachprüfungen auf Vergabeverstöße vor den Vergabekammern als Ausfluss der Rechtsmittelrichtlinie gestaltet wurde.

§§ 1, 2 VwVfG erfassen den Anwendungsbereich auch für § 35a VwVfG aber für jede öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden des Bundes und der Länder, soweit nicht Rechtsvorschriften des Bundes inhaltsgleiche oder entgegenstehende Bestimmungen enthalten. Solche sind im Hinblick auf einen vollautomatisierten Erlass von Beschlüssen einer Vergabekammer nicht ersichtlich. Analogie-Erwägungen benötigt es für die Anwendung im Nachprüfungsverfahren dennoch nicht zwingend, weil der Vergabekammer-Beschluss bereits die Qualität eines Verwaltungsakts hat und die Vergaberegelungen keine spezielleren Vorgaben vorhalten.

Es besteht insbesondere in der Rechtsprechung und vergaberechtlichen Literatur weitgehend Einigkeit darüber, dass eine Mehrzahl von Regelungen des VwVfG im Nachprüfungsverfahren Anwendung findet, gerade, weil dieses durch die zwar gerichtsähnliche, aber doch der Verwaltung zugeordnete Vergabekammer durchgeführt wird. Für die Entscheidung der Vergabekammer gelten deshalb ergänzend die Vorschriften des VwVfG des Bundes bzw. des jeweiligen Landes, soweit Teil 4 des GWB keine speziellen Regelungen trifft. Anwendung finden z. B. die Vorschriften über die Anhörung der Beteiligten (§ 28 VwVfG), die hinreichende Bestimmtheit (§ 37 Abs. 1 VwVfG) und die Nichtigkeit (§ 44 VwVfG) von Verwaltungsakten.

Die Vergabekammer ist aber nicht befugt, eine getroffene Entscheidung nach den §§ 48, 49 VwVfG zurückzunehmen oder zu widerrufen (a.A. VK Niedersachsen, Beschluss vom 05.06.2014, VgK-13/2014). Denn aus den Vorschriften des Teils 4 des GWB über die sofortige Beschwerde (§§ 171 ff.) folgt, dass die Entscheidung der Vergabekammer nicht von dieser selbst aufgehoben werden kann, sondern ausschließlich vom Oberlandesgericht, und zwar nur unter der Voraussetzung, dass einer der Beteiligten fristgerecht sofortige Beschwerde eingelegt hat (Antweiler, in: Burgi/Dreher/Opitz, Beck’scher Vergaberechtskommentar, § 168 GWB, Rn. 73; Prell, in: BeckOK, § 168 GWB, Rn. 60; Dreher, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, § 168 GWB, Rn. 63; Fett, in: MüKo, Wettbewerbsrecht, § 168 GWB, Rn. 70, 71; Nowak, in: Pünder/Schellenberg, Vergaberecht, § 168 GWB, Rn, 42; OLG Düsseldorf, Beschluss v. 12.05.2011, Verg 32/11).

§ 24 Abs. 1 S. 3 VwVfG zum Untersuchungsgrundsatz im Verwaltungsverfahren stellt zusätzlich beim Erlass vollständig automatisierter Verwaltungsakte sicher, dass für den Einzelfall bedeutsame Angaben der Beteiligten Berücksichtigung finden, die im automatischen Verfahren nicht ermittelt würden. Da § 163 GWB zum Untersuchungsgrundsatz im Nachprüfungsverfahren diesen Zusatz nicht enthält, kann § 24 Abs. 1 S. 3 VwVfG nach Ansicht des Autors im Nachprüfungsverfahren auch ergänzend herangezogen werden. Daher könnte auch im Rahmen der Entscheidungsfindung der Vergabekammer zum Schutz der Betroffenen vor dem Beschluss eine Aussteuerung derjenigen Fälle erfolgen, die eben eine individuelle Beurteilung erfordern, weil sie Beurteilungs- oder Ermessensspielräume betreffen.

Dennoch ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber zugleich in der Gesetzesbegründung klargestellt, dass eine Klage gegen Entscheidungen der Vergabekammer vor den Verwaltungsgerichten ausgeschlossen ist (Steck, in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, Rn. 48). Obwohl also der Beschluss der Vergabekammer Verwaltungsakt-Qualität aufweist, wird statt den Verwaltungsgerichten den Vergabekammern die Beachtung der verwaltungsverfahrensrechtlichen Regelungen zugewiesen. Das könnte beim vollautomatisierten Erlass eines Beschlusses durch die Vergabekammer als Verwaltungsakt dazu führen, dass in zweiter Instanz der Vergabesenat bei einem Oberlandesgericht über die Beachtung der Voraussetzungen des § 35a VwVfG und damit als Zivilgericht über verwaltungsrechtliche Materie zu befinden hat, dessen Nichtbeachtung sogar zur Rechtswidrigkeit des Vergabekammer-Beschlusses führen könnte. Da jedoch jedes Gericht und jede Behörde grundsätzlich auch im Rahmen einer inzidenten Prüfung Rechtsnormen zu prüfen hat, die unter Umständen nicht in ihren „ureigenen Rechtsbereich“ fallen, dürfte dies zumindest keinen Grund darstellen, die Anwendung des § 35a VwVfG auf das Nachprüfungsverfahren zu versagen.

Unter der Prämisse, dass der Gesetzgeber eine die Vollautomatisierung in Nachprüfungsverfahren legitimierende Rechtsvorschrift schafft, sind Beschlüsse durch vollautomatisierte Einrichtungen rechtlich denkbar; derzeit jedoch lediglich in Teilbereichen bzw. Teilaspekten, die sich auf gebundene Entscheidungen ohne Ermessens- und Beurteilungsspielräume beziehen. Komplexe Rechtsfindung durch die Vergabekammer, die das Ausfüllen von unbestimmten vergaberechtlichen Rechtsbegriffen, Beurteilungsspielräume sowie die Ausübung von Vorschriften, die Ermessen einräumen, betreffen, wird durch solche vollautomatisierten Einrichtungen zumindest in naher Zukunft zweifellos nicht ersetzt.

Man stelle sich aber vor, eine KI-gestützte Software könnte den über ein elektronisches Postfach eingehenden Nachprüfungsantrag auslesen, in Kenntnis der jeweils aktuell geltenden EU-Schwellenwerte den geschätzten Netto-Auftragswert des streitgegenständlichen Auftrags herausfiltern und damit unmittelbar einen vollautomatisierten zurückweisenden Beschluss fassen, weil der Nachprüfungsantrag wegen Unterschreitung der EU-Schwellenwerte mangels Zuständigkeit der Vergabekammer offensichtlich unzulässig ist. Es müsste kein unnötiges Zuschlagsverbot ergehen. Das Vergabeverfahren würde sich nicht verzögern. Die Vergabekammer wäre in solchen, auch wenn zunächst schlichten Fällen, entlastet.

VI. Fazit

Die Anwendung des § 35a VwVfG auf Vergabekammer-Beschlüsse als Verwaltungsakte ist in Zukunft, soweit die grundlegenden Voraussetzungen wie insbesondere ermächtigende Rechtsvorschriften vom Gesetzgeber geschaffen werden, in Teilbereichen gar nicht so abwegig. Es wird aber bei unverändertem § 35a VwVfG dabei bleiben müssen, dass die Anwendung lediglich diejenigen Konstellationen betrifft, in denen Ermessen- und Beurteilungsspielräume nicht vorhanden sind, sondern eine gebundene Entscheidung ergehen kann. Betrifft ein Nachprüfungsverfahren erstere, wird eine Aussteuerung erfolgen müssen, die den Spielräumen durch menschliche Willensbetätigung Rechnung trägt, sodass in diesen Fällen kein vollautomatisierter Beschluss erfolgen kann. Angesichts des rasanten Fortschritts bei der Entwicklung intelligenter Algorithmen und dem bestehenden Rationalisierungsdruck scheint jedoch eine Fortentwicklung in Zukunft nicht ausgeschlossen (Prell, in: BeckOK, VwVfG, § 35a, Rn. 14). Insoweit beachte man bereits die Möglichkeiten, die sich durch künstliche Intelligenz bieten wie im Falle von ChatGPT. Die Zukunft wird insoweit eine Antwort bringen.


Empfehlung der Redaktion
Der Autor teilt sein Wissen rund um Vergabe- und Zuwendungsrecht auch in einem Online-Seminar für die DVNW Akademie – das nächste Mal am 7. Mai 2024. Erfahren Sie, wie Zuwendungsempfänger ihre Vergaben konform mit den Anforderungen der Zuwendungsgeber gestalten und häufige Fehler vermeiden können.
Jetzt anmelden!


The post Vergabekammer goes digital: Vollautomatisierte Beschlüsse im Nachprüfungsverfahren? appeared first on Vergabeblog.

Der BGH – schlecht in Form (BGH, Urt. v. 16.05.2023 – XIII ZR 14/21)

0
0
Bauleistungen

EntscheidungMit Urteil vom 16.05.2023 (Az.: XIII ZR 14/21) hat der BGH – was in dem nachfolgend wiedergegebenen Leitsatz nicht hinreichend zum Ausdruck kommt – entschieden, § 13 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 VOB/A gebe dem Auftraggeber (auch) das Recht, verbindlich Dateiformate vorzugeben, in denen Angebote oder Angebotsteile zur Vermeidung eines Ausschlusses aus formalen Gründen einzureichen sind. Diese Entscheidung erging zwar zur VOB/A 2016, sie wäre aber, wenn sie richtig wäre – was sie aber nicht ist – auf die gleichlautende Norm in der VOB/A 2019 übertragbar.

Leitsatz

  1. Der Auftraggeber kann gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 VOB/A 2016 festlegen, welche elektronischen Mittel (§§ 11, 11a VOB/A) bei der Einreichung von elektronischen Angeboten zu verwenden sind.
  2. Werden vorgegebene elektronische Mittel bei der Einreichung des Angebots nicht verwendet, ist das Angebot nicht formgerecht übermittelt und gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 2 VOB/A 2016 auszuschließen.

Sachverhalt

Anfang 2019 schrieb der Auftraggeber im Wege einer Öffentlichen Ausschreibung nach dem Abschnitt1 der VOB/A 2016 Bauarbeiten mit einem geschätzten Auftragswert von ca. 140.000 € aus. Einziges Zuschlagskriterium war der Preis. Elektronische Angebote waren zugelassen. Die Vergabeunterlagen enthielten eine Vorgabe des Auftraggebers, die so zu verstehen war, dass Bieter, die eAngebote abgeben, das mit Preisangaben ausgefüllte Leistungsverzeichnis als GAEB-Datei im Format d.84 oder x.84 einreichen mussten. Bieter A gab das preisgünstigste Angebot ab. Sein eAngebot war vollständig, allerdings lag das ausgefüllte Leistungsverzeichnis nur als PDF-Datei vor. Der Auftraggeber schloss das Angebot des A nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 VOB/A 2016 aus formalen Gründen aus und vergab den Auftrag in der Folgezeit anderweitig. Daraufhin verklagte A den Auftraggeber auf  Schadensersatz (positives Interesse). Mit Urteil vom 28.07.2020 wies das Landgericht die Klage ab; der Grund für die Klageabweisung spielte im weiteren Verlauf keine Rolle mehr. Auf Berufung des A gab das Oberlandesgericht mit Urteil vom 25.08.2021 der Klage dem Grunde nach statt. Es  war der Auffassung, A habe ein prüf- und wertungsfähiges Angebot abgegeben; ein Ausschluss nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 VOB/A 2016 sei nicht in Betracht gekommen, weil die Vorgabe, das Leistungsverzeichnis im GAEB-Format einzureichen, nicht von § 13 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 VOB/A 2016 gedeckt sei. Hiergegen legte der Auftraggeber Revision ein.

Die Entscheidung

Der BGH gab der Revision statt. Der Begriff „Form“ in § 13 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 VOB/A 2016 lasse nach seinem Wortlaut die Auslegung dahin zu, dass die Form des Angebots auch die bei seiner Einreichung zu verwendenden elektronischen Mittel umfasse, dieses Mittel also vom Auftraggeber verbindlich vorgegeben werden könne. Das bei der Abgabe eines Angebots zu verwendende elektronischen Mittel könne zugleich die Art und Weise der Verkörperung des Angebots und seiner Abgabe bestimmen. Wenn ein elektronisches Mittel zur Verkörperung und Übermittlung des Angebots wie WinGAEB ein bestimmtes Dateiformat erfordere, beinhalte die Vorgabe der Verwendung dieses Mittels zwangsläufig auch die Vorgabe, dass Angebote in diesem Dateiformat zu erstellen und einzureichen sind.

Rechtliche Würdigung

Zunächst ist anzumerken, dass das Urteil des BGH schon sachlich sehr fragwürdig ist. Das im konkreten Fall vom Auftraggeber den Bietern zum Download zur Verfügung gestellte Programm WinGAEB ist ein Datenverarbeitungsprogramm (wie MS Word oder MS Excel), mit dem man Dateien im GAEB-Format herstellen, lesen, bearbeiten und in andere Formate wie MS Excel exportieren kann. WinGAEB gibt dem Verwender aber auch die Möglichkeit, ein ausgefülltes Leistungsverzeichnis als Excel-Datei oder txt-Datei zu erstellen. Das Programm ist kein elektronisches Mittel zum Senden oder Empfangen digitaler Angebote i.S.d. § 11a (EU/VS) Abs. 2 VOB/A. Mit WinGAEB hergestellte Dateien kann man z.B. auch als EMail-Anhang versenden. Das vom Auftraggeber für die Entgegennahme digitaler Angebote bereitgestellte elektronische Mittel erforderte offensichtlich auch nicht die Übermittlung von GAEB-Dateien. Sonst wäre dem Bieter A nämlich nicht gelungen, ein vollständiges Angebot im PDF-Format hochzuladen. Das System hätte auch Excel-Dateien akzeptiert.

Einer rechtlichen Nachprüfung hält das Urteil des BGH nicht stand. Gemäß § 97 Abs. 1 Satz 1 GWB, § 2 Abs. 1 Satz 1 VOB/A und § 2 Abs. 1 Satz 1 UVgO werden öffentliche Aufträge im Wettbewerb vergeben. Daraus folgt, dass der Auftraggeber nur dann wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen ergreifen darf, wenn dies aus sachlichen Gründen unbedingt notwendig ist. Zu den einschneidensten wettbewerbsbeschränkten Eingriffen eines Auftraggebers in ein Vergabeverfahren gehört der Ausschluss eines Wettbewerbsteilnehmers oder eines Angebots. Es sollte sich von selbst verstehen, dass dieser Schritt entweder auf einer normierten Grundlage beruhen (OLG Düsseldorf v. 08.07.2020 – Verg 6/20), oder zur Durchsetzung der Grundprinzipien des Vergaberechts unbedingt erforderlich sein muss. Zumindest bei der Ausschreibung von Bauleistungen ist weiterhin zu beachten, dass es erklärtes Ziel der bis heute fortwirkenden Neufassung der VOB/A aus dem Jahre 2009 war, im Interesse der Erhaltung eines möglichst umfassenden Wettbewerbs die Anzahl der am Wettbewerb teilnehmenden Angebote nicht unnötig wegen an sich vermeidbarer, nicht gravierender formaler Mängel zu reduzieren (BGH v. 18.06. 2019 – X ZR 86/17). Dass Angebote, die vollständig sind, also geprüft, gewertet und bezuschlagt werden könnten und nur im „falschen“ Dateiformat übermittelt wurden, unter keinem gravierenden Mangel leiden, kann niemand ernsthaft in Frage stellen. Leider ist die Botschaft des X. Zivilsenats des BGH nicht bei dem derzeit für Vergabesachen zuständigen XIII. Zivilsenat angekommen. Dieser hat stattdessen in § 13 Abs. 1 Satz 1 VOB/A die Befugnis des Auftraggebers hineingelegt, auch das Dateiformat, in dem das eAngebot (oder ein Teil davon) abzugeben ist, verbindlich und ausschlussbedroht vorzuschreiben.

Man könnte vielleicht den Begriff „Form“ in § 13 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 VOB/A so verstehen, dass damit alle denkbaren formalen Anforderungen an Angebote gemeint sind, so z.B. auch die Vorgabe, dass schriftliche Angebote nur handschriftlich oder nur maschinenschriftlich erstellt werden dürfen. Das war und ist aber nicht Sinn und Zweck der Norm und war von dem für die Erarbeitung und Weiterentwicklung der VOB/A zuständigen Deutschen Vergabe- und Vertragsausschuss für Bauleistungen (DVA) nie so gewollt. Dies ignorierte der BGH, als er § 13 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 VOB/A neu erfand.

Um die Jahrtausendwende guckte, aus Brüssel kommend, die eVergabe mit digitalen Angeboten um die Ecke. Dies nahm der DVA im Jahre 2000 zu Anlass, den Auftraggebern erstmals die Möglichkeit einzuräumen, auch eAngebote zuzulassen. Unter der neuen Überschrift „Form und Inhalt der Angebote“ hatten die neuen Sätze 1 und 2 des § 21 Nr. 1 Abs. 1 VOB/A 2000, die Urfassung des heutigen § 13 Abs. 1 Nr. 1 VOB/A, folgenden Wortlaut:

Die Angebote müssen schriftlich eingereicht und unterzeichnet sein. Daneben kann der Auftraggeber mit digitaler Signatur im Sinne des Signaturgesetzes versehene digitale Angebote zulassen, die verschlüsselt eingereicht werden müssen.“

Man kann nicht ernsthaft in Frage stellen, dass nur zwei Formen gemeint waren: schriftlich und digital, sonst nichts. Der Regelungsinhalt beschränkte sich auf die Aussage, dass Papierangebote immer zulässig sind, digitale nur dann, wenn sie vom Auftraggeber zugelassen wurden. Ein weitergehender Regelungsinhalt dahingehend, dass der Auftraggeber befugt sein könnte, für eAngebote auch sonstige verbindliche Formvorgaben zu machen, ließ sich mit seriösen Auslegungsmethoden nicht in die Norm hineininterpretieren.

2006 erhielt § 21 Nr. 1 Abs. 1 VOB/A eine sprachlich neue Fassung:

Der Auftraggeber legt fest, in welcher Form die Angebote einzureichen sind. Schriftlich eingereichte Angebote sind immer zuzulassen. Sie müssen unterzeichnet sein. Elektronisch übermittelte Angebote sind nach Wahl des Auftraggebers mit einer fortgeschrittenen elektronischen Signatur nach dem Signaturgesetz und den Anforderungen des Auftraggebers oder mit einer qualifizierten elektronischen Signatur nach dem Signaturgesetz zu versehen.“

Eine Änderung des Regelungsgehalts hinsichtlich des nun auch im Normtext enthaltenen Begriffs „Form“ war offensichtlich nicht gewollt;  nach wie vor ging es nur um zwei Formen: schriftlich oder digital. Dementsprechend ist im jurisPK-Vergaberecht, 2. Auflage 2008 unter Rn. 3 zu § 21 VOB/A 2006  das zu lesen, was damals allgemeine Meinung war:

Durch die Novelle der VOB/A 2006 wurde mit Blick auf die elektronische Vergabe in Nr. 1 Absatz 1 eine Neuregelung eingeführt, wonach der der Auftraggeber festzulegen hat, in welcher Form – schriftlich oder digital – die Angebote einzureichen sind.“

Die Fassung aus dem Jahre 2006 findet sich unverändert im der VOB/A 2009, dort allerdings als § 13 Abs. 1 Nr. 1.  Die nächste Änderung erfolgte in der neuen Gesamtausgabe der VOB/A 2016. Ab dem 19.10.2018 entfiel die Verpflichtung des Auftraggebers, schriftliche Angebote immer zuzulassen. Im Einführungserlass des (damaligen) BMUB v. 09.09.2016 heißt es unter „Hinweise“ zu § 13:

§ 13 sah bislang vor, dass der Auftraggeber (anders als in der VOL/A) schriftliche Angebote immer zulassen musste, also nicht vollständig auf die E-Vergabe umstellen konnte. Dies gilt jetzt nur noch bis zum 18. Oktober 2018, also dem Zeitpunkt, ab dem im Oberschwellenbereich die E-Vergabe spätestens verpflichtend wird. Nach diesem Zeitpunkt kann der Auftraggeber im Unterschwellenbereich die Form der einzureichenden Angebote bestimmen. Er kann wählen, ob er weiterhin schriftliche Angebote zulässt oder ausschließlich elektronisch eingereichte.“  In den Hinweisen zu § 14 ist zu lesen: „Entschließt sich der Auftraggeber nach dem 18. Oktober 2018, Angebote auch in schriftlicher Form zuzulassen, führt er weiterhin einen herkömmlichen Eröffnungstermin unter Anwesenheit der Bieter durch.“

Sollte es trotz der Normhistorie jemals Zweifel daran gegeben haben, dass es in § 13 Abs. 1 Nr. 1 VOB/A 2016 ausschließlich darum ging, dass der Auftraggeber frei wählen kann, ob er auch künftig neben Angeboten in digitaler Form auch Angebote in „schriftlicher Form“ zulässt und gegebenenfalls eine entsprechende Festlegung treffen muss, müssten diese durch die zitierten Hinweise endgültig ausgeräumt worden sein.

Der Regelungsinhalt des § 13 Abs. 1 Nr. 1 VOB/A 2019 ist mit dem aus dem Jahre 2016 identisch. Auch heute gilt, was bereits 2016 galt: Gemäß § 11 Abs. 4 (EU/VS) VOB/A liegt es formgerechtes eAngebot vor, wenn es auf elektronischem Wege in Textform beim Auftraggeber eingeht. Für weitergehenden Formvorgaben, deren Missachtung mit dem Angebotsausschluss  sanktioniert werden könnte, gibt es keine Rechtsgrundlage – schon gar nicht in § 13 (EU/VS) VOB/A.

Auf die Beschaffung von Liefer- und Dienstleistungen wäre die BGH- Entscheidung ohnehin nicht übertragbar. In der VgV fehlt eine Vorschrift, in die man das hineininterpretieren könnte, was der BGH in § 13 Abs. 1 Nr. 1 VOB/A 2016 hineingelegt hat. Die einzige Formvorschrift ist § 53 VgV. Der Wortlaut des § 38 Abs. 1 Satz 1 UVgO ist so eindeutig, dass er einer „Auslegung“ im Sinne der Entscheidung des BGH vom 16.05.2023 von vorn herein entgegensteht. Er gibt genau das wieder, was auch Sinn und Zweck des § 13 (EU/VS) Abs. 1 Nr. 1 VOB/A war und ist.


Empfehlung der Redaktion
Der Autor teil regelmäßig sein Wissen in Seminaren für die DVNW Akademie. Den „Grundkurs Vergaberecht für Auftraggeber“ können Sie zum Beispiel als Online-Seminar buchen oder an einem der Vor-Ort-Termine in Frankfurt, Düsseldorf oder Berlin teilnehmen.


The post Der BGH – schlecht in Form (BGH, Urt. v. 16.05.2023 – XIII ZR 14/21) appeared first on Vergabeblog.

Haushaltssperre 2023: Vergaberechtliche Konsequenzen – Eine Positionierung

0
0
UNBEDINGT LESEN!

EntscheidungAngesichts der Haushaltssperre für die Ministerien des Bundes stehen Auftraggeber vor der Frage, wie mit Vergabeverfahren und Verträgen rechtssicher umzugehen ist, ohne den gesamten Vergabe-Workflow einzufrieren. Auch wenn der beschlossene Nachtragshaushalt Anlass für Hoffnung bietet, haben die aktuellen Vorgänge gezeigt, wie schnell der sonst so krisensichere Vergabesektor in Bredouille kommen kann. Dieser Beitrag möchte in aller Kürze die wesentlichen Eckpunkte beleuchten.

Was ist passiert?

Paukenschläge aus Karlsruhe und Berlin. Was bereits Anfang 2022 Gegenstand intensivster Diskurse war, hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil vom 15.11.2023 (Az. 2 BvF 1/22) nun bestätigt: Die Umschichtung von Corona-Krediten auf den Klima- und Transformationsfonds (KFT) im zweiten Nachtragshaushalt 2021 war verfassungswidrig. Angesichts dessen verhängte das BMF am 20.11.2023 eine Haushaltssperre. Diese gilt grundsätzlich für die Bundesministerien und deren Unterbau (einschließlich Unternehmen im Eigentum des Bundes), vorbehaltlich besonderer Ausnahmen. Eine Haushaltssperre (§ 41 BHO) hat u.a. zur Folge, dass Ausgaben nicht geleistet und Verpflichtungsermächtigungen nicht eingegangen werden dürfen. Bereits etatisierte Mittel können weiterhin abgerufen werden, allerdings dürfen keine Verpflichtungen für die Zukunft eingegangen werden. Im Beschaffungskontext hat dies unterschiedliche Auswirkungen.

1. Reaktionsmöglichkeiten im laufenden Vergabeverfahren

Für laufende Verfahren gilt grundsätzlich ein Zuschlagsverbot. Denn mit dem Zuschlag erfolgt grundsätzlich der Vertragsschluss und die Verpflichtung zu einer Gegenleistung, deren Eingehen die Haushaltssperre untersagt. Zur Bewältigung dieses misslichen Schwebezustands hält das Vergaberecht verschiedene Reaktionsmöglichkeiten bereit.

a) Fristverlängerungen

Zunächst kann der Auftraggeber die Angebotsfristen verlängern. Über die zwingenden Fälle des § 20 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 und 2 VgV hinaus ist eine fakultative Fristverlängerung im Rahmen ordnungsgemäßer Ermessensausübung immer möglich. Auch Bindefristen können verlängert werden, allerdings nur im Einvernehmen mit den Bietern (z.B. OLG Düsseldorf 29. 12. 2001 – Verg 22/01).

b) Keine Pflicht zur Zuschlagserteilung: Möglichkeit der Aufhebung

Auftraggeber sind nicht verpflichtet, einen Zuschlag zu erteilen bzw. ein Angebot anzunehmen (Vertragsfreiheit). Aus diesem Grund steht es dem Auftraggeber frei, egal aus welchen Gründen, ein Vergabeverfahren aufzuheben. Eine solche Aufhebung ist immer wirksam, wenn sie nicht willkürlich erfolgt. Von der Wirksamkeit ist die Rechtmäßigkeit der Aufhebung zu unterscheiden, welche nur gegeben ist, wenn ein gesetzlicher Aufhebungsgrund vorliegt (vgl. etwa § 63 VgV, § 48 UVgO). Die Rechtmäßigkeit der Aufhebung hat insbesondere für Schadensersatzansprüche am Verfahren beteiligter Bieter Relevanz. Angesicht der Haushaltssperre liegt ein Aufhebungsgrund nach § 63 Abs. 1 Nr. 2 VgV bzw. § 48 Abs. 1 Nr. 2 UVgO vor. Danach ist eine Aufhebung rechtmäßig, wenn sich die Grundlage des Vergabeverfahrens wesentlich ändert. Davon umfasst sind auch wirtschaftliche Gründe, zu denen die haushalterische Verfügbarkeit von Mitteln zählt (OLG Düsseldorf v. 26. 6. 2013 – VII-Verg 2/13).

c) Risiken

Das Problem ist aus den jüngsten Krisen bekannt – massive Kostensteigerungen aufgrund höherer Gewalt. So kam es infolge der Covid-19-Pandemie und dem Ukraine-Krieg zu explosionsartigen Preissteigerungen, die weiter andauern. Solche Steigerungen können nach dem Zuschlag, aber auch schon während des Vergabeverfahrens auftreten. Bei der künstlichen Dehnung von Vergabeverfahren durch Fristverlängerungen oder Verzögerungen laufen Auftraggeber Gefahr, dass sich die Auftragswertschätzungen als nicht mehr realistisch erweisen, wenn sich die Kosten in der Zwischenzeit erheblich erhöht haben. Für Bieter besteht das Risko nicht mehr kostendeckender Preiskalkulationen und hohen Vertragsstrafen wegen Lieferverzug. Gerade seit der Covid-19-Pandemie ist die Sensibilität zur Aufnahme von Wertsicherungs- oder Preisanpassungsklauseln und Force-Majeure-Klauseln in Verträge geschärft. Fehlen solche besonderen Klauseln, steht zur Begegnung diesbezüglicher Problematiken dennoch ein umfangreiches Arsenal zur Verfügung, durch das mittels einer Vertragsanpassung auf die Kostensteigerung reagiert werden kann. Die Möglichkeiten reichen hier von ergänzender Vertragsauslegung bis hin zu einem Anpassungsanspruch nach § 313 BGB wegen Störung der Geschäftsgrundlage (vgl. dazu ausführlich: Csaki/Sieber, ZfBR 2023, 329).

Außerdem kann die rechtswidrige Aufhebung einer Ausschreibung Schadensersatzpflichten des Bieters wegen Verletzung vorvertraglicher Pflichten nach §§ 311 Abs. 2, 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB begründen.

2. Reaktionsmöglichkeiten in laufenden Verträgen

Da diese bereits etatisiert sind, ergeben sich für laufende Verträge grundsätzlich keine Bedenken. Probleme können jedoch für wesentliche Auftragsänderungen bestehen. Die in solchen Fällen nötige Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens (vgl. § 132 Abs. 1 S. 1 GWB) ist durch die Haushaltssperre verwehrt. Um innerhalb bestehender Verträge handlungsfähig zu bleiben, liegt der Gedanke nahe, eine Auftragsänderung unter einem Ausnahmetatbestand nach § 132 Abs. 3 oder Abs. 2 GWB durchzuführen, um auf eine Neuausschreibung zu verzichten. Eine de-minimis-Vergabe nach § 132 Abs. 3 GWB ist bei Vorliegen der Voraussetzungen oft ohne weiteres möglich. Ein erhöhter Begründungsaufwand ist gefordert, wenn das Absehen von einer Neuausschreibung auf einen der Gründe nach Absatz 2 gestützt werden soll. In Betracht kommt hier z.B. § 132 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 GWB, sofern man die Haushaltssperre unter die „wirtschaftlichen Gründe“ fassen kann. Allerdings sind Änderungen nach § 132 GWB in den meisten Fällen nicht schon etatisiert, sondern bedürfen einer weiteren Freigabe von Haushaltsmitteln. Auftraggeber, die zu so einem Vorgehen greifen, das ohnehin wettbewerbsrechtlich heikel ist, müssen sich deshalb im Klaren darüber sein, dass hier auch haushaltsrechtliche Schelten wegen Verstoßes gegen die Haushaltssperre seitens der Aufsichtsstelle wahrscheinlich sind.

Weniger problematisch dürfte der Abschluss von Rahmenverträgen sein. Ein Rahmenvertrag verpflichtet den Auftraggeber regelmäßig noch nicht zu einem Leistungsabruf, sondern legt zunächst äußere Bedingungen für konkrete Einzelabrufe fest. Dem Abschluss bloßer Rahmenverträge ohne Abrufverpflichtung steht die Haushaltssperre daher nicht entgegen. Schwieriger ist die Beurteilung des Einzelabrufs, da mit diesem konkrete Leistungs- und auftraggeberseitige Gegenleistungspflichten begründet werden. Für eine Zulässigkeit des Einzelabrufs ist genau zu prüfen, ob die entsprechenden Mittel bereits etatisiert wurden. Ist dies der Fall, kann ein Abruf erfolgen. Etwas anderes kann gelten, wenn der Rahmenvertrag eine Abnahmeverpflichtung vorsieht, insbesondere wenn diese zeitlich determiniert ist. Sobald vertragliche Änderungen erfolgen, die eine wesentliche Auftragsänderung darstellen, sieht man sich erneut den Reglementierungen und den damit verbundenen Risiken des § 132 GWB gegenüber.

3. Fazit und Praxishinweise

Die Haushaltssperre bringt das öffentliche Beschaffungswesen auf Bundesebene trotz ihrer gravierenden Folgen keineswegs vollständig zum Erliegen. Obwohl die Einleitung neuer Vergabeverfahren untersagt ist, werden Ausnahmebewilligungen für besonders wichtige Verfahren, etwa im Baubereich, erteilt. Für laufende Vergabeverfahren sind Auftraggeber gut beraten, sich das umfangreiche Reaktionsinstrumentarium der Vergabegesetze ins Gedächtnis zu rufen. Es besteht die Möglichkeit, sich durch angemessene Fristverlängerungen bis zur weiteren Konsolidierung der Lage Zeit zu verschaffen. Keinesfalls besteht eine Pflicht, sofort und überhastet Zuschläge zu erteilen, um die Verfahren zu „retten“, oder Verfahren sofort aufheben zu müssen. Im Vertragsmanagement mit bereits etatisierten Positionen haben Auftraggeber auch angesichts der Haushaltssperre freie Hand, wohingegen wesentliche Auftragsänderungen nicht nur vor dem Vergaberecht, sondern nun auch wegen der Haushaltssperre mit Vorsicht zu behandeln sind. Die weiteren Entwicklungen bleiben mit Spannung abzuwarten.


Empfehlung der Redaktion
Dr. Csaki gibt regelmäßig Seminare für die DVNW Akademie – das nächste Mal zum Beispiel am 14. Dezember 2023 zum Thema Markterkundung und Verfahrensvorbereitung.
Jetzt anmelden!


Kontribution

Der Beitrag wurde gemeinsam mit Herrn Rechtsanwalt Ferdinand Sieber verfasst.

Avatar-Foto

Über Ferdinand Sieber

Ferdinand Sieber ist Rechtsanwalt in der Sozietät Bird & Bird. Als Associate in der Praxisgruppe Öffentliches Wirtschaftsrecht in München berät er Unternehmen sowie die öffentliche Hand in den Bereichen des öffentlichen Wirtschafts- und Vergaberechts.

The post Haushaltssperre 2023: Vergaberechtliche Konsequenzen – Eine Positionierung appeared first on Vergabeblog.

Open-House: „Ausschreibungsverbot“ für öffentliche Auftraggeber bei der Leistungserbringung im Sozialrecht? (BSG, Urt. v. 17.05.2023 – B8SO 12/22 R)

0
0
Gesundheits- & SozialwesenLiefer- & Dienstleistungen

EntscheidungIm Rahmen einer Fortsetzungsfeststellungsklage in analoger Anwendung des § 131 Abs 1 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hatte das Bundessozialgericht darüber zu entscheiden, ob die Ausschreibung für Integrationshelfer an Schulen für Kinder mit Behinderung gemäß den §§ 97 ff. des GWB rechtmäßig war.

Sachverhalt

Die Beklagte schrieb im Jahr 2013 erstmalig, sowie nach zwischenzeitlicher Zurücknahme im Jahr 2016 erneut Leistungen des Einsatzes von Integrationshelfern an Schulen in Düsseldorf öffentlich aus. Die Kläger, bisherige Leistungserbringer von Integrationshilfen, gaben nach gescheiterten Vergütungsverhandlungen in 2011 kein Gebot auf die 2013 und 2016 von der Beklagten ausgeschriebene Dienstleistung ab. Die Vergabe ging nach Ermittlung der wirtschaftlichsten Angebote anhand von Zuschlagskriterien (70% Preis und 30% Erfahrung in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung) an zwei andere Organisationen, die bis zum Schuljahr 2020/2021 nahezu alle derartigen Integrationshelfer-Leistungen im Stadtgebiet erbrachten.

Die Kläger wandten sich zunächst an die Vergabekammer Rheinland, um den Fortgang des Ausschreibungsverfahrens zu unterbinden. Die Vergabekammer vertrat die Auffassung, dass sozialhilferechtliche Bestimmungen der Durchführung des Vergabeverfahrens nicht entgegenstünden. Die von einem der Kläger dagegen eingelegte sofortige Beschwerde wies das OLG Düsseldorf zurück (Az.: Aktenzeichen VII Verg 38/14). Die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Vergaberechts lägen aufgrund der Eigenschaft der Beklagten als öffentlicher Auftraggeberin sowie der geplanten Vergabe des Vertrages über den Einsatz von Integrationshelfern als öffentlichem Auftrag unter gleichzeitiger Erreichung des Schwellenwertes vor.

Der Kläger machte daraufhin ein Verfahren vor dem SG Düsseldorf anhängig.

Nach Zurückweisung der Klage durch das SG Düsseldorf stellte das Landessozialgericht (LSG) NRW die Rechtswidrigkeit der Durchführung des mittlerweile beendeten Vergabeverfahrens sowie der Zuschlagserteilung durch die Beklagte fest (Urteil vom 23.3.2022). Das LSG NRW argumentierte mit der grundsätzlichen Ausgestaltung der Leistungserbringung gemäß §§ 75 ff SGB XII und des daraus resultierenden Vorrangs des sozialhilferechtlichen Dreiecksverhältnisses. Aus diesem ergebe sich die Nichtanwendbarkeit des europäischen Vergaberechts.

Die Entscheidung

Der Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat die Revision zurückgewiesen.

Nach der EuGH-Rechtsprechung finde der in §§ 97 ff. GWB umgesetzte Grundsatz des Vergabezwangs öffentlicher Aufträge und Konzessionen keine Anwendung auf einfache Zulassungssysteme, im Rahmen derer keine Auswahlentscheidung des öffentlichen Auftraggebers erfolgt („Open-House Verfahren“, siehe Vergabeblog.de vom 12/06/2023, Nr. 53567).

Ein solches „Open-House-Verfahren“ ist immer dann gegeben, wenn die aufgestellten Anforderungen des Auftraggebers keine Zuschlagskriterien darstellen (also solche, die der Ermittlung des wirtschaftlich günstigsten Angebots dienen), sondern die Erfahrung, Ausstattung, Zertifizierung oder die Zulassung der Leistungserbringer betreffen und während der gesamten Laufzeit des Vertragssystems mit sämtlichen geeigneten Marktteilnehmern, welche die erfragten Leistungen zu den festgelegten Bedingungen erbringen, ein Vertrag geschlossen wird.

Die Vergabe im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis sei demzufolge nicht grundsätzlich von der Vergabepflicht ausgenommen, vielmehr sei eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, ob der Leistungsträger eine Auswahlentscheidung trifft.

Bei den §§ 75 ff. SGB XII bzw. seit dem 01.01.2018 den §§ 123 ff. SGB IX seien alle Wirtschaftsteilnehmer, die gewisse Voraussetzungen erfüllen, zur Wahrnehmung einer gewissen Aufgabe ohne Selektivität  berechtigt. Es handele sich dabei somit um ein einfaches Zulassungssystem, bei dem keine Auswahlentscheidung stattfinde, weshalb kein Vergabezwang gemäß §§ 97 ff. GWB bestehe.

In den Fällen, in denen kein Zwang zur Anwendung des Vergaberechts gegeben ist, bestehe für die Auftraggeber nach sozialrechtlichen Maßstäben allerdings auch keine Berechtigung, ein Vergabeverfahren durchzuführen. Der Durchführung eines Vergabeverfahrens stünde das in SGB XII und SGB IX vorgesehene Versorgungssystem entgegen. Hintergrund ist die dort bestehende Pflicht des Leistungsträgers, den Leistungsanspruch der Berechtigten mittels Abschluss vertraglicher Vereinbarungen gemäß §§ 75 SGB ff. XII bzw. §§ 123 ff. SGB IX sicherzustellen. Dabei müsse eine Pluralität der Leistungserbringer erreicht werden, die dem Wunsch- und Wahlrecht des Leistungsberechtigten gerecht wird. Diesem widerspräche eine Beschränkung der Zahl der Leistungserbringer, welche mit einem vergaberechtlichen Zuschlag einhergeht.

Das Konzept der Leistungserbringung durch den Abschluss von Verträgen nach §§ 75 ff. SGB XII schütze auch die daran teilnehmenden Dienste, da ohne einen gleichberechtigten sowie umfassenden Zugang dieser zum Markt das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten sowie der diesem immanente Grundsatz von Angebots- und Trägervielfalt weitgehend nutzlos sei.

Da das eingliederungsrechtliche Vertragsrecht einen transparenten und gleichberechtigten Wettbewerb gewährleiste, sei eine vergaberechtliche Kontrolle nicht erforderlich.

Rechtliche Würdigung

Anders als sonst üblich möchte hier nicht der Auftraggeber das Vergaberecht umgehen, sondern das klagende Unternehmen möchte durchsetzen, das kein Vergabeverfahren durchgeführt wird. Diese auf den ersten Blick skurril wirkende Konstellation ist mit den Besonderheiten des Sozialrechts zu erklären. Ausgehend von der Ausgestaltung der Leistungserbringung nach den §§ 75 ff. SGB XII bzw. §§ 123 ff. SGB IX besteht in diesem Bereich ein Vorrang des sozialhilferechtlichen Dreiecksverhältnisses gegenüber dem Vergaberecht. Die Träger müssen in der Regel mit jedem geeigneten Leistungserbringer einen Vertrag schließen – ohne Selektion bzw. Beschränkung im Sinne einer vergaberechtlichen Auswahlentscheidung.

Der BSG stellt klar, dass in diesen Fällen eine bewusste „Flucht ins Vergaberecht“ durch den Auftraggeber unzulässig ist. Eine derartige Wahl seitens des Auftraggebers ist in der Regel wohl selten, kann sich allerdings aus dem Motiv begründen, dem Preisniveau zu entgehen, das je nach SGB mit den entsprechenden Leistungs- und Vergütungsverhandlungen zu entstehen droht (vgl. SRa 2023, 22 (31)).

Die Entscheidung ergänzt gut die neuere vergaberechtliche Rechtsprechung zu diesem Thema, die für solche Zulassungssysteme nach SGB den Vergaberechtsweg für nicht eröffnet sieht, weil es an der Vergabe eines öffentlichen Auftrages fehle (VK Bund vom 11.01.23, siehe Vergabeblog.de vom 12/06/2023, Nr. 53567).

Die Entscheidung des BSG lässt die bereits geschlossenen Verträge aus dem betreffenden Vergabeverfahren unberührt. Sie stellt im Sinne des Präjudizinteresses der Kläger die Rechtswidrigkeit des Vergabeverfahrens und des Zuschlags fest und bereitet so einen Amtshaftungsprozess vor.

Praxistipp

Die Entscheidung hindert die Auftraggeber natürlich nicht, ein solches – als Open-House gestaltetes – Verfahren dennoch öffentlich bekannt zu machen, um möglichst viele Leistungserbringer zu erreichen. Im von der VK Bund entschiedenen Fall hatte der Auftraggeber das Verfahren sogar europaweit bekannt gemacht. Es ist sicherlich auch möglich bzw. zulässig, sich bei der Gestaltung des Verfahrens an vergaberechtlichen Grundsätzen zu orientieren, solange man keine Selektion vornimmt, sondern mit allen geeigneten Leistungserbringern Verträge schließt.

Kontribution

Der Beitrag wurde gemeinsam mit Herrn Tom Pechmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Kanzlei FPS Fritze Wicke, Seelig, Frankfurt am Main, verfasst.


Empfehlung der Redaktion
Die Autorin teil Ihr Wissen auch in Seminaren der DVNW Akademie, zum Beispiel ab dem 20.02.2024, wenn es um „die Vergabe von Reinigungsdienstleistungen“ geht. In diesem Seminar erhalten Sie praktische Tipps für die rechtssichere und erfolgreiche Vergabe von Reinigungsdienstleistungen. Jetzt anmelden!


The post Open-House: „Ausschreibungsverbot“ für öffentliche Auftraggeber bei der Leistungserbringung im Sozialrecht? (BSG, Urt. v. 17.05.2023 – B8SO 12/22 R) appeared first on Vergabeblog.

Inhouse-Vergabe: Müssen Voraussetzungen bei Auftragsänderung noch vorliegen? (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.06.2023 – Verg 29/22)

0
0
UNBEDINGT LESEN!Verkehr

EntscheidungAusschreibungsfreie Inhouse-Vergaben und Auftragsänderungen sind gängige Praxis in der Beschaffung. Beide Bereiche sind entsprechend reguliert. Im Jahr 2022 urteilte der EuGH (siehe ), dass ein Rechtsnachfolger die Leistungen eines inhouse-beauftragten Unternehmens nicht gemäß § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Buchst. b) GWB fortführen darf, wenn die Inhouse-Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Der Vergabesenat in Nordrhein-Westfalen stellt nun die Frage an die Luxemburger Richter, ob es zulässig ist, einen ursprünglich inhouse vergebenen Auftrag später gemäß § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB zu ändern, wenn die Inhouse-Voraussetzungen zu diesem Zeitpunkt nicht mehr erfüllt sind.

§ 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Satz 2 GWB, § 108 Abs. 1 bis 5 u. 7 GWB; Art. 72 Abs. 1 Buchst. c) RL 2014/24/EU

Leitsatz (Vorlagefrage)

Ist § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB so zu verstehen, dass er auch für öffentliche Aufträge gilt, die vorher außerhalb des EU-Vergaberechts an eine Inhouse-Einrichtung vergeben wurden, aber die Inhouse-Vergabevoraussetzungen zum Zeitpunkt der Vertragsänderung nicht mehr erfüllt sind?

Sachverhalt

In den Jahren 1996 bis 1998 schloss Deutschland mit der damals bundeseigenen Tank & Rast AG Konzessionsverträge für den Betrieb von Autobahntankstellen und Raststätten ab, ohne vorherige Ausschreibung. Diese Verträge sind bis heute gültig. Die Konzessionen umfassen u.a. die Verpflichtung, eine festgelegte Anzahl von Zapfsäulen und Abfertigungsplätzen zu betreiben. Im Jahr 1998 erfolgte die Privatisierung der Tank & Rast AG.

Im Jahr 2022 wurden die bestehenden Konzessionsverträge ergänzt, um die eigenwirtschaftliche Übernahme von Errichtung, Unterhaltung und Betrieb von funktionsfähiger Schnellladeinfrastruktur zu ermöglichen. Das Schnellladegesetz (SchnellLG) schreibt vor, eine festgelegte Anzahl von Ladeplätzen pro Standort verfügbar zu halten. Diese Änderung wurde im EU-Amtsblatt bekannt gemacht. Der Verzicht auf ein Vergabeverfahren wurde mit § 132 GWB begründet: Der Aufbau der Schnellladeinfrastruktur sei als zusätzliche Dienstleistung im Rahmen der Konzessionsverträge notwendig, was beim damaligen Vertragsabschluss nicht vorhersehbar war.

Dagegen richtete sich ein Nachprüfungsverfahren. Es wurde damit begründet, dass § 132 GWB nicht anwendbar sei, weil die bestehenden Konzessionen nicht im Rahmen eines Vergabewettbewerbs vergeben wurden. Die VK Bund wies den Antrag zurück, da die Notwendigkeit der Schnellladeinfrastruktur im Jahr 1998 nicht vorhersehbar war. Nach einer zum OLG Düsseldorf erhobenen sofortigen Beschwerde scheide hingegen eine Änderung nach § 132 GWB aus, weil die Vorschrift nicht auf die Änderung von ursprünglich nicht im Wettbewerb, sondern ohne Ausschreibung an eine Inhouse-Einrichtung vergebene öffentliche Aufträge keine Anwendung fände. Zudem wurden die ursprünglichen Konzessionen als vergaberechtswidrig eingestuft, da sie im Wissen um eine anschließende Privatisierung vergeben worden seien. Aufgrund dessen ersuchte der nordrhein-westfälische Vergabesenat den EuGH um Vorabentscheidung.

Die Entscheidung

Das OLG Düsseldorf meint, dass die Voraussetzungen von § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB bei den meisten Konzessionsverträgen erfüllt sind. So konnte der öffentliche Auftraggeber zwischen 1996 und 1998 nicht vorhersehen, dass es einen Bedarf für Schnellladeinfrastruktur an Autobahnraststätten geben würde. Die gesetzliche Verpflichtung dazu sei erst später entstanden. Zudem verändere die vertragliche Ergänzung der Schnellladeinfrastruktur weder den Gesamtcharakter der Konzession noch erhöhe sie den Wert um mehr als 50%.

Der Vergabesenat in Nordrhein-Westfalen betrachtet die Ergänzungsvereinbarung aber als wesentliche Änderung gemäß § 132 Abs. 1 Satz 1 GWB. Die Richter kritisieren in der Vergabe-RL die Formulierungen „neues“ und „ursprüngliches“ Vergabeverfahren als unklar. Nach allgemeinem Sprachverständnis spricht man von einem „neuen“ Verfahren, wenn zuvor ein „altes“ oder „ursprüngliches“ Vergabeverfahren stattgefunden habe. Dabei könnte das „Vergabeverfahren“ auch ein förmliches Verfahren bedeuten. Das OLG Düsseldorf hebt jedoch hervor, dass auch die Beauftragung einer Inhouse-Einrichtung als Vergabe eines Auftrags interpretiert werden könne.

Die Rechtsprechung des EuGH liefere nach oberlandesgerichtlicher Ansicht kein eindeutiges Ergebnis. Die Rechtssachen C-454/06 „pressetext“ und C-526/17 „KOM/Italien“ könnten so interpretiert werden, dass es für § 132 GWB nicht darauf ankommt, wie der ursprüngliche Auftrag zustande gekommen ist. Anders könnte hingegen die Rechtssache C-719/20 „Commune di Lerici“ verstanden werden: Das Urteil unterstütze die generelle Herausnahme von ursprünglich an eine Inhouse-Einrichtung vergebene Aufträge aus dem Anwendungsbereich von § 132 GWB, wenn die Voraussetzungen für eine Inhouse-Vergabe zum Zeitpunkt der Vertragsänderung nicht mehr gegeben sind. Das Ziel des EU-Vergaberechts, einen umfassenden Wettbewerb zu fördern, wäre nicht erfüllt, wenn Änderungen an einem ursprünglich inhouse vergebenen Auftrag während der Laufzeit ohne Neuvergabe möglich wären, obwohl die Inhouse-Kriterien aktuell nicht mehr erfüllt sind.

Rechtliche Würdigung

Die zentrale Frage betrifft die Anwendbarkeit von § 132 GWB auf öffentliche Aufträge, die ursprünglich aufgrund einer Ausnahmevorschrift, wie zum Beispiel dem Inhouse-Geschäft gemäß § 108 GWB, nicht im Rahmen eines Ausschreibungswettbewerbs vergeben wurden.

Den Düsseldorfer Richtern ist zuzustimmen, dass § 132 GWB bzw. Art. 72 RL 2014/24/EU nicht eindeutig klären, ob der Vertragsabschluss das Ergebnis eines vorherigen förmlichen Vergabeverfahrens sein muss oder nicht. Es besteht keine zwingende Schlussfolgerung dafür, dass die Formulierung „neues Vergabeverfahren“ in Art. 72 RL 2014/24/EU bedingt, dass der ursprüngliche Auftrag auch ein „altes Vergabeverfahren“ im förmlichen Sinne voraussetzen muss. Ebenso könnte die Interpretation sein, dass kein „neues Vergabeverfahren“ notwendig ist, weil möglicherweise bereits kein „altes Vergabeverfahren“ erforderlich war.

Das hauptsächliche Ziel von § 132 GWB besteht darin, Flexibilität zu ermöglichen, um pragmatisch auf außergewöhnliche Sachverhalte zu reagieren (EuGH, Urteil v. 03.02.2022 – C-461/20 Advania, Rdnr. 37). Entscheidend dafür sollte nicht grundsätzlich sein, wie der Auftrag oder der Vertrag ursprünglich zustande kam (siehe Scharen, in: Willenbruch/Wieddekind, Vergaberecht, 4. Aufl. 2017, § 132 Rdnr. 5). Die Durchführung eines förmlichen Vergabeverfahrens oder die direkte Vergabe aufgrund einer Ausnahme sollte daher für § 132 GWB nicht generell von Bedeutung sein. Nach Erwägungsgrund 109 kann dies jedoch nicht für Fälle gelten, in denen eine Änderung das Wesen des gesamten Auftrages verändert. Andernfalls würden der Transparenz- und Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt (EuGH, Urteil v. 07.12.2023 – C-441/22 u. C-443/22, „Obshtina Razgrad“). Das Verbot der Änderung des Gesamtcharakters des Auftrags durch eine spätere Vertragsänderung ist in § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB bereits normiert. Solange und soweit eine spätere Änderung eines ursprünglich inhouse vergebenen Auftrages nicht darauf abzielt, das Vergaberecht zu umgehen, sollte die Anwendung von § 132 GWB möglich sein.

Praxistipp

Die ausschreibungsfreie Änderung eines Inhouse-Auftrages wegen unvorhersehbarer Umstände i.S.d. § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB sollte jedenfalls bis zu einer Entscheidung des EuGH in dem Vorabentscheidungsersuchen – vorsorglich nur dann erfolgen, wenn auch die Inhouse-Voraussetzungen im Zeitpunkt der vertraglichen Änderung noch vorliegen.

The post Inhouse-Vergabe: Müssen Voraussetzungen bei Auftragsänderung noch vorliegen? (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.06.2023 – Verg 29/22) appeared first on Vergabeblog.

Mitwirkung im Katastrophenschutz ist legitime Voraussetzung für Tätigkeit im Rettungsdienst (BVerwG, Beschl. v. 21.09.2023 – 3 B 44.22)

0
0
Gesundheits- & SozialwesenUNBEDINGT LESEN!

EntscheidungDie Bereichsausnahme Gefahrenabwehr/Rettungsdienst ermöglicht, einen Mehrwert für den Bevölkerungsschutz einzufordern.

§ 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB, Art. 10 Buchst. h Richtlinie 2014/24/EU, Art. 21 lit. h) Richtlinie 2014/25/EU, Art. 49 AEUV, Art. 56 AEUV, Art. 52 iV.m. Art 62 AEUV, § 14 Abs. 1 S. 2 HmbRDG, Art. 12 GG, Art. 3 GG

Leitsatz

§ 107 Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 2 GWB kann richtlinienkonform dahingehend ausgelegt werden, dass nach Bundes- oder Landesrecht anerkannte Zivil- oder Katastrophenschutzorganisationen nur dann unter den Begriff der Hilfsorganisation fallen, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen, die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Anerkennung als gemeinnützige Organisation oder Vereinigung im Sinne des Art. 10 Buchst. h der Richtlinie 2014/24/EU vorliegen müssen.

Sachverhalt

Die Hansestadt Hamburg nutzt die Bereichsausnahme Gefahrenabwehr/Rettungsdienst in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB. Sie vergibt Leistungen des bodengebundenen Rettungsdienstes in einem „verwaltungsrechtlichen Auswahlverfahren“ außerhalb des GWB-Vergaberechts. Es dürfen nur gemeinnützige Bewerber teilnehmen, welche über die „Zustimmung zur Mitwirkung im Katastrophenschutz“ gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 5 HmbKatSG verfügen. Ein Auftragnehmer (bislang aufgrund der Übergangsregelung in § 35 Abs. 1 HmbRDG temporär in der Notfallrettung beteiligt) will teilnehmen, hat aber besagte Zustimmung nach dem Landeskatastrophenschutzrecht nicht und klagt erfolglos vor den Verwaltungsgerichten.

Die Entscheidung in dritter Instanz betrifft die Frage, ob Revision zuzulassen war. Das BVerwG hat dies verneint. Damit sind viele Fragen im Zusammenhang mit der Bereichsausnahme geklärt, auch in verfassungsrechtlicher Sicht.

Die Entscheidung

Das BVerwG lässt die Revision nicht zu. Die entsprechende Nichtzulassungsbeschwerde des Auftragnehmers wird zurückgewiesen.

Rechtliche Würdigung

Weder Verfahrensmängel (strittig waren Einzelheiten der Akteneinsicht die allerdings trotz Möglichkeit im Eilverfahren (!) gar nicht wahrgenommen wurde; ebenfalls Fragen des EU-Primärrechts) noch die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache konnten dargelegt werden. Naturgemäß hat die Entscheidung für die Klägerin als auch für die Rettungsdienstwelt eine erhebliche Bedeutung. Allerdings kommt es vor dem BVerwG darauf an, dass eine fallübergreifende, bisher höchstrichterlich nicht beantwortete Frage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) vorliegt. Diese muss weiter entscheidungserheblich sein und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder einer Weiterentwicklung des Rechts in der Revision geklärt werden. Dies konnte der Vertreter der Klägerin nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 S. 3 VwGO genügenden Weise darlegen.

Nachfolgend beleuchten wir Einzelfragen, die das BVerwG behandelt hat. Zunächst zum EU-Primärrecht:

Den zweiten Begründungsstrang [des OVG, die Autoren], das Auswahlverfahren verstoße nicht gegen primäres Unionsrecht, hat die Klägerin nicht mit einem durchgreifenden Zulassungsgrund angegriffen. (BVerwG, Rz. 20)

a) Keine Verletzung von Primärrecht (fehlende Binnenmarktrelevanz), Rechtfertigung der Einschränkungen

Ist das Bestehen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts bereits dann (und unabhängig von den Voraussetzungen des binnenmarktrelevanten Auftrags) anzunehmen, wenn ein (Mutter-) Konzern aus einem EU-Mitgliedstaat eine Tochtergesellschaft in einem anderen EU-Mitgliedstaat nach inländischem Recht gründet, die sich ihrerseits dann im Inland auf Dienstleistungsaufträge bewirbt?“

Das OVG hat angenommen, dass an der Vergabe von Rettungsdienstleistungen kein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse bestehe. Im übrigen verstoße das Auswahlverfahren nicht gegen EU-Primärrecht s. dazu näher die Begründung des OVG, Rz. 128ff., welches auch auf den EuGH verweist: „Eine primärrechtliche Verpflichtung zur Öffnung des Teilnehmerkreises für sämtliche private Organisationen brächte mithin vorliegend die Gefahr mit sich, dass die in der Vergaberichtlinie ausdrückliche vorgenommene Herausnahme derartiger Aufträge aus dem Pflichtenkatalog der Vergaberichtlinie jegliche praktische Wirksamkeit verlöre“. (OVG, Rz. 130)

Ebenfalls zeigte das OVG auf, dass das Erfordernis der Mitwirkung im Katastrophenschutz der Freien und Hansestadt Hamburg mit primärem Unionsrecht vereinbar sei.

Die insoweit betroffenen Grundfreiheiten seien „aus einem nach Art. 52 AEUV i.V.m. Art. 62 AEUV unionsrechtlich anerkannten Rechtfertigungsgrund in verhältnismäßiger Weise eingeschränkt“ worden. Der Schutz der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit ermöglichen es nach ständiger Rechtsprechung wie im nationalen Verfassungsrecht, diese Freiheiten zu begrenzen. (OVG, Rz. 133)

Die begrenzende landesrechtliche Regelung im HmbKatSG soll „durch eine Verzahnung von Regelrettungsdienst und Katastrophenschutz das Schutzniveau auch bei der Bewältigung von Großschadenslagen und Katastrophen hochhalten“ und „damit insgesamt ein hohes Gesundheitsschutzniveau“ sicherstellen. (OVG, Rz. 133)

Eine landesrechtliche Konkretisierung und damit ein konkreter Mehrwert für den Bevölkerungsschutz ist definitiv umsetzbar, was das BVerwG nochmals bestätigt hat.

b) Nationale Umsetzung der Bereichsausnahme ist EU-rechtskonform

In diversen Kontexten (Klagen, Nachprüfungsanträge, Vertragsverletzungsverfahren der Kommission INFR(2018)2272) wurde die nationale Umsetzung der Bereichsausnahme in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB (bislang zu Recht erfolglos) kritisiert. Insbesondere die nationale deutsche Ergänzung im zweiten Halbsatz wurde angegriffen: „gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen im Sinne dieser Nummer sind insbesondere die Hilfsorganisationen, die nach Bundes- oder Landesrecht als Zivil- und Katastrophenschutzorganisationen anerkannt sind“.

Insofern stellte die Klägerin die folgende Frage:

„Steht Art. 10 lit. h) RL 2014/24/EU einer Regelung wie in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB, § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 HmbRDG i. V.m. § 5 Abs. 1 Satz 1 HmbKatSG entgegen, die ein Auswahlverfahren auf gemeinnützige Organisationen beschränken will, die mit Zustimmung eines Bundeslandes (hier: der Freien und Hansestadt Hamburg) im Katastrophenschutz vor Ort mitwirken, obwohl die Mitwirkung im Katastrophenschutz im nationalen Recht nicht davon abhängt, dass keine Gewinnerzielungsabsicht vorliegt, weil diese Organisationen damit nicht ‚gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen‘ i. S. d. RL 2014/24/EU sind“?

und

„Sind die Art. 10 lit. h) Richtlinie 2014/24/EU, Art. 21 lit. h) Richtlinie 2014/25/EU und Art. 10 Abs. 8 lit. g) Richtlinie 2014/23/EU dahingehend auszulegen, dass § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB unionsrechtswidrig und damit unanwendbar ist?“

Das BVerwG stellt klar, dass § 107 Abs. 1 Nr. 4 den Wortlaut der Regelung auf EU-Ebene im GWB wiederholt. Es verweist auf den EuGH. Dieser „hat außerdem entschieden, dass Organisationen oder Vereinigungen, deren Ziel in der Erfüllung sozialer Aufgaben besteht, die nicht erwerbswirtschaftlich tätig sind und die etwaige Gewinne reinvestieren, um das Ziel der Organisation oder Vereinigung zu erreichen, unter den Begriff der gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen im Sinne des Art. 10 Buchst. h der RL 2014/24/EU fallen (EuGH, Urteile vom 21.03.2019 – C-465/17 – juris Rn. 59 und vom 07.07.2022 – C -213/21 – a. a. O. Rn. 34)“. (BVerwG, Rz 43).

Die Frage geht formalistisch an der bundesdeutschen Realität vorbei: Alle Hilfsorganisationen (inzwischen auch diverse private Rettungsdienst-Unternehmen – zur Flucht in die Gemeinnützigkeit s.a. Kieselmann/Pajunk, NZBau 2021, 174-177 zu OLG Hamburg, B. v. 16.04.2020, 1 Verg 02-20) sind gemeinnützig. Denkbar wäre allenfalls eine Diskrepanz zwischen nationalem und EU-Recht in den Mitgliedsstaaten, in welchen es möglicherweise nicht gemeinnützige Hilfsorganisationen gibt. Das betrifft aber nicht den vorliegenden Fall.

Somit kommt das BVerwG zum folgenden Schluss: „mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Normauslegung sei die Frage, ob § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB mit Art. 10 Buchst. h der Richtlinie 2014/24/EU im Einklang steht, eindeutig zu bejahen“. (BVerwG, Rz 44).

Damit ist klar, dass gemeinnützige Organisationen wie die bundesweit tätigen Hilfsorganisationen in der Bundesrepublik Deutschland der Bereichsausnahme unterfallen. Ob rein formal gemeinnützige Organisationen oder Unternehmen ohne einen wirklichen Mehrwert für den Bevölkerungsschutz (Ehrenamt) auch unter diese Regelung fallen, wird sich in der Spruchpraxis zeigen. Die Zielrichtung der Bereichsausnahme zeigt, dass nur dieser konkrete Mehrwert für den Bevölkerungsschutz über die Herausnahme aus dem GWB-Vergaberecht belohnt werden soll.

Ebenfalls wurden weitere Fragen zu einer unterstellten Unionsrechtswidrigkeit (z.B. zu einem Privileg (Monopol) von ‚anerkannten‘ Hilfsorganisationen, zu Markteintrittsmöglichkeiten für nicht bereits vor Ort ansässige und im Katastrophenschutz mitwirkende Organisationen und zum kritisierten Erfordernis der Mitwirkung im Katastrophenschutz) verneint.

Die Klägerin konnte nicht darlegen, dass die Normauslegung hier ungeklärte Fragen von grundsätzlicher Bedeutung aufwerfe. Damit bestätigt das BVerwG die Entscheidung des OVG. Diese enthält wiederum lesenswerte und wichtige Passagen zur Verfassungsmäßigkeit bzw. Konformität der einschränkenden Regelungen im Landesrecht zu höherrangigem Recht (§ 14 Abs. 1 Satz 2 HmbRDG) und Bundesrecht (§ 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB).

c)          Einschränkungen sind verfassungskonform

Die Klägerin führte auch vermeintliche Verstöße gegen das Grundgesetz (Art. 12 und Art. 3 GG) ins Feld und legte dazu diverse Fragen vor:

„Ist der Ausschluss von der Erbringung von Rettungsdienstleistungen von solchen Hilfsorganisationen, die nicht bereits im Katastrophenschutz mitwirken, mit den Maßgaben von Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar, wenn der Ausschluss faktisch zu einer objektiven Berufszulassungssperre für das betreffende Unternehmen führt?“,

„Steht Art. 12 Abs. 1 GG der Errichtung eines Verwaltungsmonopols im Bereich von Rettungsdienstleistungen entgegen?“ und

„Ist der Ausschluss von Bietern aus dem Vergabeverfahren, die nicht die Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 S. 2 HmbRDG i. V. m. § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB erfüllen, mit höherrangigem Recht (insbesondere Art. 12 Abs. 1 GG) vereinbar?“.

„Folgt aus Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG ein Anspruch auf Beteiligung in einem transparenten, wettbewerblichen und chancengleichen Auswahlverfahren – insbesondere dann, wenn die Nichtberücksichtigung zu einem faktischen Berufsverbot für das betreffende Unternehmen führt?“,

„Darf ein Rettungsdienstträger die Ausschreibungsunterlagen so gestalten, dass nur für im Katastrophenschutz zugelassene Anbieter die Abgabe eines Angebots möglich ist?“,

„Ist der Ausschluss von Bietern aus dem Vergabeverfahren, die nicht die Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 S. 2 HmbRDG i. V. m. § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB erfüllen, mit höherrangigem Recht vereinbar; also ist diese Norm zur Abwehr nachweisbarer und höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut geeignet, erforderlich und angemessen?“ und

„Kann in einem rettungsdienstlichen Auswahlverfahren verlangt werden, dass der Bewerber bereits zum Zeitpunkt der Abgabe des Angebotes über das nötige Personal, Material im Bereich des Katastrophenschutzes verfügt, obwohl er weder im Katastrophenschutz zugelassen ist und die Zulassung zum Katastrophenschutz unmöglich während der laufenden Abgabefrist in dem rettungsdienstlichen Auswahlverfahren zu erlangen ist?“

Landesrecht wie das HmbRDG ist grundsätzlich irreversibel, kann also nicht im Rahmen einer Revision vor dem BVerwG angegriffen werden, vgl. § 137 Abs. 1 VwGO. Insofern ging es um Bundesrecht.

Die tatsächlichen Feststellungen im Fall wurden nicht wirksam angegriffen, sie waren also für den Senat bindend (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO). Ebenfalls konnte die Klägerin nicht darlegen, „welchen weitergehenden fallübergreifenden Klärungsbedarf die Rechtssache danach in Bezug auf Art. 12 Abs. 1 GG aufwerfen sollte“. (BVerwG, Rz. 61): Es ist nach ständiger Rechtsprechung klargestellt, dass im Rettungsdienst die Berufsfreiheit eingeschränkt werden kann (viele Nachweise in der Entscheidung). Der Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung auch im Katastrophenfall durch ehrenamtliche Aufwachskapazitäten ist eine hinreichende verfassungsrechtliche Rechtfertigung.

Auch in Bezug auf Art. 3 GG stellt der Senat fest: „Damit zeigt die Klägerin nicht auf, dass der Rechtssache grundsätzlicher Klärungsbedarf […] zukommt. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbare Ungleichbehandlung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt“.

Im Sinne der verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeit wird klargestellt, dass private Rettungsdienstunternehmer normalerweise weitere Geschäftsfelder haben, in denen sie tätig werden können (z.B. qualifizierter Krankentransport oder Kranken-/Taxifahrten etc.). Somit ist der Eingriff abgemildert und verhältnismäßig. In Hamburg gab es wegen der gesetzlichen Übergangsfrist auch genug Zeit, einen Übergang aus der Notfallrettung heraus zu organisieren.

Landesrechtliche aktuelle Entwicklungen (u.a. Sachsen) zur Bereichsausnahme

In vielen Bundesländern ist schon lange möglich, gemeinnützige Hilfsorganisationen im Rettungsdienst privilegiert zu behandeln. Teilweise (z.B. NRW) wurde zwischen 2010 und 2016 Landesrecht neutraler gefasst, um den vermeintlichen Widerspruch zum EU-Vergaberecht zu heilen. Teilweise, so auch in Sachsen, wurde (ohne Not) ein expliziter Verweis auf das GWB-Vergaberecht eingeführt. § 31 Abs. 1 S. 3 der letzten Fassung des SächsBRKG (Fassung vom 01.01.2020) lautete:

„Für den bodengebundenen Rettungsdienst sind die Verfahren nach dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. Juni 2013 (BGBl. I S. 1750, 3245), das zuletzt durch Artikel 10 des Gesetzes vom 12. Juli 2018 (BGBl. I S. 1151) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung, durchzuführen.“

Nach Einführung der Bereichsausnahme Gefahrenabwehr/Rettungsdienst (§ 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB) in 2014/2016 ist eine Gegenbewegung zu beobachten. In manchen Bundesländern war/ist auch nach den Gesetzesfassungen der letzten Jahre bislang möglich gewesen, die Privilegierung nach der Bereichsausnahme praktisch umzusetzen und einen Mehrwert für den Bevölkerungsschutz in Auswahlverfahren zu belohnen. In Sachsen war dies aufgrund der o.g. Fassung schwierig und wurde (soweit ersichtlich) von keinem Träger versucht. Es war erklärtes Ziel der aktuellen Regierungskoalition (CDU, Grüne, SPD) im Koalitionsvertrag 2019 bis 2024, die Bereichsausnahme im Freistaat zu verankern, nachdem auf diversen Seiten umfangreiche Vergabeverfahren mit Kollateralschäden und erheblichem Aufwand bei Trägern und Bietern kritisch gesehen wurden. Zitat aus dem genannten Koalitionsvertrag: „Um die Qualität des Rettungsdienstes von übermäßigem Kostendruck zu befreien, werden wir das Vergabeverfahren im Rettungsdienst auf den Prüfstand stellen und hierbei zumindest die Bereichsausnahme für den Rettungsdienst ermöglichen“. Die Aussage steht im Kontext zu diversen anderen Punkten, welche den Katastrophenschutz und die gesundheitliche Gefahrenabwehr im Allgemeinen stärken (Einbindung der Kriseninterventionsteams in die Strukturen des Katastrophenschutzes, weitere Stärkung des Ehrenamtes (Thematik Helfergleichstellung), stärkere Einbeziehung ungebundener Helfer (Spontanhelfer), Experimentierklausel für innovative Ansätze im Rettungsdienst etc).

Es wurde ein Konsultationsverfahren zur Novelle durchgeführt.

Im Dezember 2023 wurde nach längeren Geburtswehen das SächsBRKG novelliert (Presseerklärung Innenministerium vom 13.12.2023) und die Bereichsausnahme als Option ermöglicht. Die Neufassung tritt Anfang 2024 in Kraft. Damit haben die Träger, welche die Vorteile eines flexibleren verwaltungsrechtlichen Auswahlverfahrens nutzen wollen, die Möglichkeit, das manchmal starre GWB-Vergaberecht zu verlassen und für die jeweilige Region verhältnismäßige Lösungen zu finden.

Der neue Absatz 5 im maßgeblichen § 31 SächsBRKG lautet in der letzten Fassung (Beschlüsse des Ausschusses für Inneres und Sport) nun „(5) Bei der Auswahlentscheidung sollen Qualität und die Mitwirkung im Katastrophenschutz berücksichtigt werden.“ (Drs. 7/15073 zu Drs 7/13269 vom 04.12.2023).

Damit wird ermessensleitend über eine Soll-Vorschrift sichergestellt, dass sowohl Qualitätsaspekte als auch die Mitwirkung im Katastrophenschutz in Auswahlverfahren berücksichtigt werden. Dies gilt sowohl für Verfahren nach GWB als auch (mit Nutzung der Bereichsausnahme) im Verwaltungsvergaberecht. Damit wird (jedenfalls außerhalb des GWB) ermöglicht, dass die Träger einen konkreten Mehrwert für den Bevölkerungsschutz in transparenten und willkürfreien Auswahlverfahren positiv berücksichtigen über eine rein formale Anerkennung auf der Landesebene (§ 40 Abs. 1 S. 2 SächsBRKG) hinaus.

Ähnliche Möglichkeiten bestehen auch in anderen Bundesländern.

Praxistipp

Landesgesetzgeber/Politik: Es muss geprüft werden, inwieweit die landesrechtlichen Regelungen ermöglichen, den notwendigen Mehrwert für den Bevölkerungsschutz in (verwaltungsrechtlichen) Auswahlverfahren unter der Bereichsausnahme zu fordern und zu implementieren. In den meisten Ländern ist es schon nach aktueller Gesetzeslage möglich, konkrete lokale/regionale Ressourcen für den Katastrophenschutz zu fordern. Bei der Novellierung von Landesrettungsdienstgesetzen besteht hier teilweise noch Handlungsbedarf, wenngleich diverse Bundesländer schon klarstellend aktiv waren/sind. Sinnvoll sind ermessensleitende Erwägungen, mit denen Qualität, Resilienz und der Mehrwert für den Bevölkerungsschutz (Ehrenamt) sichergestellt werden können.

Die Verhältnismäßigkeit im verfassungsrechtlichen Sinne sollte berücksichtigt werden: Denkbar sind Übergangsregelungen, die einen gewissen Bestandsschutz ermöglichen und/oder die Möglichkeit, dass private Rettungsdienstunternehmen weiter im Krankentransport und sonstigen Geschäftsfeldern aktiv sind. Denkbar ist, dass man die schon in diversen Bundesländern vorhandene Möglichkeit ausweitet, mit Konzessionen außerhalb des öffentlich-rechtlichen Rettungsdienstes qualifizierten Krankentransport erbringen zu können.

Auftraggeber/Träger: Im Fokus muss stehen: Der konkrete Auftrag in der Gefahrenabwehr (Rettungsdienst und Bevölkerungsschutz als Gesamtsystem!) und eine möglichst effektive Umsetzung im Trägerbereich auch mit Blick über die Grenzen des Landkreises etc. hinaus.

Die gemeinnützigen Hilfsorganisationen liefern in den meisten Fällen einen signifikanten Mehrwert für den Bevölkerungsschutz. Der Träger ist gehalten, dies lokal/regional zu fördern und im Rahmen seines verwaltungsrechtlichen Ermessens bei Auswahlverfahren zu berücksichtigen. Damit wird er auch seiner völkerrechtlichen Verpflichtung aus den Genfer Konventionen gerecht (s. zur Unterstützungspflicht bzw. zur gegenseitigen Verantwortlichkeit von Behörden und nationalen Hilfsgesellschaften s. nur Heike Spieker, in: Johann, Handkommentar zum DRK-Gesetz, 1. Aufl. 2019, § 1 Rn. 43 m. w. N.)

Mit der Bereichsausnahme kann der Träger nun einen konkreten Mehrwert für den Bevölkerungsschutz in der Region transparent und willkürfrei einfordern über rein formale Anerkennungen hinaus. So kann Ehrenamt, Resilienz und Vorhaltung für größere Schadenslagen gefördert werden.

Öffnet dagegen der Auftraggeber den Wettbewerb auch für rein private Anbieter, so macht er von der Ausnahmevorschrift des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB gerade keinen Gebrauch. Dies muss er allerdings im Rahmen der Ermessensausübung auch ausführlich begründen; die Verwaltungsgerichte können dies überprüfen.

Bei Vorhalteerhöhungen (z.B. aufgrund von Gutachten) ist Vorsicht geboten: Die Kapazitäten des Rettungsdienstes können nicht ohne weiteres vergrößert werden: Es gibt schon seit langem einen erheblichen Fachkräftemangel. Diverse Kliniken und sonstige Strukturen fallen weg. Dies kann nicht alles durch den Rettungsdienst kompensiert werden. Es zeigt sich, dass gerade bei den Notfalleinsätzen 50-80% Fehleinsätze sind. Dies demotiviert Mitarbeiter und erhöht massiv die Kosten. Einsparungen sind nur durch Strukturverbesserung möglich, nicht durch hohe Preiswichtung in Auswahlverfahren. Achten Sie darauf, im Dialog sowohl mit den Kostenträgern als auch den Leistungserbringern zu bleiben. Nur durch deren Rückmeldungen kann verhindert werden, dass Kosten noch weiter ansteigen. Intelligente Lösungen wie der Gemeindenotfallsanitäter (Akutmedizin oder andere Begriffe sind synonymatisch) oder die Telemedizin/Telenotarzt können helfen.

Krankenkassen/Kostenträger: Achten Sie auf strukturelle Verbesserungen und Anreize statt auf hohe Preiswichtung oder ähnliche Fehlanreize. Das System von SGB V und Landesrecht ist in den Bundesländern schon sehr formalisiert. Es gibt im Rettungsdienst kein Spiel des freien Marktes, den das Vergaberecht für einen wirksamen Wettbewerb voraussetzt. Die Wirtschaftlichkeit kann ohne weiteres über einen offenen Austausch über Strukturfragen (Vorhaltung etc.) zwischen Trägern, Leistungserbringern und Kostenträgern sichergestellt werden. Über Personalkostendruck kann man keine nachhaltigen Einsparungen erzeugen. Dies haben viele (Kosten-)Träger bereits erkannt und verzichten auf den Preis als Wertungskriterium. Stattdessen sollten langfristige Anreize für ein resilientes Gesamtsystem der Gefahrenabwehr geschaffen werden: Fordern Sie einen Mehrwert für den Bevölkerungsschutz, erzeugen Sie Anreize für Qualität und versuchen Sie, auch sektorenübergreifend den Anstieg von Einsatzzahlen zu verringern. Intelligente Vernetzung in der digitalen und realen Welt von Telenotarzt und digitaler Einsatzdatenerfassung bis hin zu sozialen Dienstleistungen und Modellen wie dem Gemeindenotfallsanitäter/Akutmedizin muss gefördert und gelebt werden. Die kassenärztliche Versorgung und die Kliniklandschaft leiden häufig selbst unter Problemen – arbeiten Sie zusammen! Ein starker Bevölkerungsschutz ist kein Kostenfaktor, sondern dient auch den Versicherten.

Hilfsorganisationen: Die Bereichsausnahme Gefahrenabwehr/Rettungsdienst ist ein beeindruckender Erfolg, der das Gesamtsystem der Gefahrenabwehr stärkt. Die Bereichsausnahme ist mittlerweile rechtssicher anwendbar, wie die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zeigt – auch wenn es sicherlich noch weitere Konkretisierungen in der Rechtsprechung geben wird. Mit einem schlanken, willkürfreien Auswahlverfahren nach Verwaltungsrecht kann lokal/regional ein wichtiger und rechtssicherer Mehrwert für den Bevölkerungsschutz sichergestellt werden. Stärken Sie gemeinsam und nachweisbar ihr Ehrenamt in den Regionen – dieses ist Rechtfertigung, um auf Ausschreibungen und GWB-Vergaberecht zu verzichten. Sie sollten ebenfalls darstellen können, in welchem Umfang die ehrenamtlichen Helfer auch Kapazitäten in der Notfallrettung brauchen (z.B. Plätze für regelmäßige Praktika etc.).

Private Leistungserbringer: Die Bereichsausnahme Gefahrenabwehr/Rettungsdienst ist mittlerweile abgesichert. Wenn Sie langfristig weiter in der Notfallrettung tätig sein wollen, reicht es nicht, sich in die formale Gemeinnützigkeit zu flüchten. Wenn Sie einen wirklichen (auch ehrenamtlichen) Mehrwert für den Bevölkerungsschutz erbringen können, ist ein Verbleib in der Notfallrettung möglich. Alternativ können Sie normalerweise im qualifizierten Krankentransport oder anderen Geschäftsfeldern weiter aktiv sein. Einen lange wirkenden verfassungsrechtlichen Bestandsschutz gibt es normalerweise nicht, wenn Konzessionen oder Aufträge auslaufen. Wenn Sie regional gute Arbeit erbringen, wird zusammen mit dem Träger eine verhältnismäßige Lösung möglich sein.

Kontribution

Der Beitrag wurde gemeinsam mit Herrn Rechtsanwalt Dr. Mathias Pajunk und Frau Rechtsanwältin Dr. Karin Deichmann, LL.M. verfasst.

Avatar-Foto

Über Dr. Mathias Pajunk

Dr. Mathias Pajunk ist ist Rechtsanwalt in der Sozietät SKW Schwarz Rechtsanwälte. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt in der Beratung von öffentlichen Auftraggebern bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen und Dienstleistungskonzessionen. Zu seinen weiteren Tätigkeitsfeldern zählt die Bearbeitung komplexer Fragestellungen auf den Gebieten des Beihilfen- und Kartellrechts.

Avatar-Foto

Über Dr. Karin Deichmann, LL.M.

Dr. Karin Deichmann, LL.M. ist ist Rechtsanwältin in der Sozietät SKW Schwarz Rechtsanwälte. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit liegt in der Beratung von öffentlichen Auftraggebern sowie Unternehmen in allen Fragen des Vergaberechts. Ein Fokus liegt dabei in der Begleitung von IT-Ausschreibungen. Daneben berät Dr. Karin Deichmann Bieter bei vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren. Sie befasst sich zusätzlich mit Fragen rund um das Beihilfen- und Zuwendungsrecht.

The post Mitwirkung im Katastrophenschutz ist legitime Voraussetzung für Tätigkeit im Rettungsdienst (BVerwG, Beschl. v. 21.09.2023 – 3 B 44.22) appeared first on Vergabeblog.


Faktencheck Vergabemathematik: Der Mythos der 50 %-Gewichtung (VK Lüneburg, Beschl. v. 05.09.2023 – VgK-20/2023)

0
0
ITKUNBEDINGT LESEN!

Entscheidung

Laut einer sehr weit verbreiteten Ansicht erzwingt die Einfache Richtwertmethode ganz offensichtlich eine 50 %-Gewichtung zwischen Leistung und Preis. So hat nun auch die VK Lüneburg ihren Beschluss unter Bezugnahme auf mehrere Vergaberechtskommentare begründet. Aber so offensichtlich, wie man meinen könnte, ist es nicht – Gehen wir der Behauptung also einmal auf den Grund:

Sachverhalt

Der AG schreibt die Lieferung und Einrichtung von Multifunktionsprintern im Mietmodell aus. Als Zuschlagsmethode wurde die Einfache Richtwertmethode – also das Preis-Leistungsverhältnis im strengen Sinn – verwendet.

Ein Bieter beschwert sich wie folgt:

„Außerdem verstoße die Ausschreibung gegen § 58bs. 3 VgV, da es vom Antragsgegner versäumt wurde, in der Auftragsbekanntmachung bzw. in den Vergabeunterlagen die Gewichtung der einzelnen Zuschlagskriterien mitzuteilen.“

Die Vergabekammer schließt sich diesem Argument nicht an, sondern begründet:

„Bereits im Jahre 2003 wurde mit der UfAB III die ‚Einfache Richtwertmethode‘ (Z = L : P) eingeführt. L steht für die tatsächlich erreichten Leistungspunkte. P steht für den angebotenen Preis. In Prozent ausgedrückt enthält die ‚Einfache Richtwertmethode‘ – immer – eine verlautbarte Gewichtung des Preises und der Leistung von je 50 % (vgl. (Opitz in: Beck`scher Vergaberechtskommentar, Bd. 1, 4. Aufl., § 127 GWB, Rn. 146). Andere Gewichtungen sind mit dieser Formel nicht umsetzbar (Delcuvé in: Müller-Wrede, GWB, 2. Aufl., § 127 GWB, Rn. 64).“

Aber ist es mathematisch überhaupt richtig, dass die Einfache Richtwertmethode immer ein Verhältnis von Leistung und Preis von je 50 % aufweist?

Beispielrechnung

Es liegen keine Informationen vor, wie viele Angebote und mit welchen Angaben eingegangen sind. Für die folgenden Überlegungen gehen wir daher einfach von nachstehendem Beispiel aus.

Auf der Leistungsseite sollen maximal 100 Wertungspunkte erreichbar sein. Es werden 4 Angebote mit folgenden Werten (nach Auswertung durch die Vergabestelle) betrachtet:

Angebot A B C D
Leistungskennzahl L 90 80 62 37
Wertungspreis P 730 € 640 € 550 € 450 €

Einen Grund, die Angemessenheit der Preise aufzuklären, gibt es in diesem Beispiel nicht, da die Aufgreifschwelle von 20 % nicht erreicht wird. (Die Wertungspreise der Angebote von C und D liegen 18,2 % auseinander. Und Angebot D ist hier auch in keinem Szenario ein Zuschlagskandidat, so dass sich die Frage der Preisaufklärung für Angebot D gar nicht stellen würde.)

Die Wertungsformel für die Einfache Richtwertmethode lautet für ein Angebot A:

Somit ergibt sich gemäß o.g. Formel folgendes Wertungsergebnis:

Angebot A B C D
Leistungskennzahl L 90 80 62 37
Wertungspreis P 730 € 640 € 550 € 450 €
Z (Einfache Richtwertmethode) 0,1233 0,1250 0,1127 0,0822

Das Angebot B hat mit dem Wert 0,1250 hat die höchste Zuschlagskennzahl und erhält den Zuschlag.

Andere Wertungsformeln

Von der UfAB-II Formel gibt es verschiedene Ausprägungen. Für das Beispiel verwenden wir folgende Formel mit der Gewichtung von je 50 % für Leistung und Preis:

LMax ist dabei die maximal erreichbare Punktzahl, in unserem Beispiel also LMax = 100.

Pmin ist der niedrigste Preis aller wertungsfähigen Angebote, hier also der Preis von Angebot D und somit Pmin = 450.

Für die Auswertung mit der UfAB-II Formel ergibt sich folgendes Bild:

Angebot A B C D
Leistungskennzahl L 90 80 62 37
Wertungspreis P 730 € 640 € 550 € 450 €
Z (UfAB-II Formel) 0,7582 0,7516 0,7191 0,6850

Jetzt hat allerdings Angebot A trotz einer Preisgewichtung von 50 % die höchste Zuschlagskennzahl und erhält den Zuschlag.

Weiter betrachten wir auch noch die (einseitige) Interpolationsmethode (siehe hierzu Vergabeblog.de vom 07/07/2015, Nr. 22924). Hier werden die Preispunkte folgendermaßen bestimmt:

Das Angebot mit dem niedrigsten Wertungspreis (hier: Angebot D) erhält die volle Punktzahl. Ein fiktives Angebot mit einem fiktiv doppelt so hohem Wertungspreis (also 2x 450 € = 900 €) erhält 0 Preispunkte. Für alle anderen Angebote (hier: A, B und C) berechnen sich die Preispunkte durch lineare Interpolation.

Für die Zuschlagsformel der Interpolationsmethode gibt es verschiedene Darstellungen, die aber immer zum selben Zuschlagsergebnis führen. Die mathematisch ästhetischste Form lautet:

Damit ergibt sich folgende Auswertung:

Angebot A B C D
Leistungskennzahl L 90 80 62 37
Wertungspreis P 730 € 640 € 550 € 450 €
Z (Interpolationsmethode) 0,6389 0,6889 0,6989 0,6850

In diesem Fall hat trotz einer Preisgewichtung von 50 % nun Angebot C die höchste Zuschlagskennzahl und erhält den Zuschlag.

Rechthaberei

Hier nochmal die Auswertungen bei einer Preisgewichtung von 50 % im Vergleich. Wie man sieht, kommt jede Formel zu einem anderen Zuschlagsergebnis:

Angebot A B C D
Leistungskennzahl L 90 80 62 37
Wertungspreis P 730 € 640 € 550 € 450 €
Z (Einfache Richtwertmethode) 0,1233 0,1250 0,1127 0,0822
Z (UfAB-II Formel) 0,7582 0,7516 0,7191 0,6850
Z (Interpolationsmethode) 0,6389 0,6889 0,6989 0,6850

Falls die Einfache Richtwertmethode tatsächlich eine Gewichtung des Preises von 50 % umsetzen würde, welche Gewichtungen setzen dann die UfAB-II Formel und die Interpolationsmethode um? Erhält bei der UfAB-II Formel vielleicht die Leistung eine höhere Gewichtung als die in der Formel angegebenen 50 %? Und erhält vielleicht bei der Interpolationsmethode der Preis ein höheres Gewicht als die angegebenen 50 %?

Oder ist es gar so, dass in Wirklichkeit die UfAB II Formel die korrekte 50 %-Gewichtung umsetzt und damit sowohl die Interpolationsmethode als auch die Einfache Richtwertmethode gerade keine 50 %-Gewichtung umsetzen?

Oder kommt es noch viel schlimmer, und keine der drei vorgestellten Formeln setzt eine 50 %-Gewichtung korrekt um?

Wie müsste denn (die eine) Formel lauten, welche die 50 %-Gewichtung korrekt umsetzt?

Oder gibt es am Ende gar keine 50 %-Gewichtung? Sind diese Pseudoprozentangaben vielleicht zuletzt nur beliebige Formelparameter, die dem Leser (also den interessierten Marktteilnehmern, den Bietern und den Vergabekammern) eine Scheingewichtung vorgaukeln, aber eine entsprechende reale Gewichtung gar nicht umsetzen?

Aus mathematischer Sicht

Tl;dr: Ein veröffentlichter angeblicher mathematischer Beweis der Aussage, dass die Einfache Richtwertmethode immer eine Gewichtung von 50 % aufweist, ist falsch.

In Vergabe Navigator 1/18 stellte Ferber im Artikel „Mehr Schein als Sein. Die Gewichtung von Leistung und Preis“ einen angeblichen mathematischen Beweis vor, demzufolge

„die einfache Richtwertmethode mit der Zuschlagsformel Z (L, P) = L/P folglich immer eine feste Gewichtung von Leistungspunkten zu Angebotspreis von 50 % x 50 % besitzt.“

Hinweis: Ferber bezeichnet dort mit „Angebotspreis“ die Kennzahl, die wir hier – analog zur UfAB 2018 – als „Wertungspreis“ bezeichnen.

Denn, so Ferber, läge eine Gewichtung der Leistungspunkte und des Angebotspreises von 50 % / 50 % (genau?) dann vor, falls Z(L,P) = Z(α⋅L,α⋅P) für α > 0.

Die Grundidee ist also, dass eine 50 % Gewichtung dann vorliegen würde, wenn man zwei Angebote miteinander vergleicht, bei der das zweite Angebot um den Faktor α mehr Leistung enthält, aber dafür auch – ebenfalls um den Faktor α – mehr kostet. Diese beiden Angebote erhalten immer dieselbe Zuschlagskennzahl Z. Wenn also einer Leistungserhöhung (bzw.  -reduzierung) eine entsprechende Preiserhöhung (bzw.  -reduzierung) gegenübersteht (also beides mal um denselben Faktor α), ohne dass sich dadurch die Zuschlagskennzahl Z verändert, dann wäre das laut Ferber zumindest hinreichend, wenn nicht sogar gleichbedeutend für eine 50 %-Gewichtung.

Wir wollen diese Aussage als die „α-Bedingung“ bezeichnen.

In der Mathematik sind zwei Aussagen A und B dann „äquivalent“ (also gleichbedeutend), wenn die Aussagen gegenseitig „hinreichend“ und „notwendig“ sind.

Eine Aussage A ist für die Aussage B dann hinreichend, wenn B gelten muss, sobald A gilt. B folgt also aus A. Wenn A wahr ist, dann muss auch B wahr sein.

Eine Aussage A ist für die Aussage B dann notwendig, dass B nur dann wahr sein kann, wenn auch A wahr ist. Wenn A nicht wahr ist, dann kann und darf auch B nicht wahr sein. A folgt also aus B.

In mathematischer Notation:

A ist hinreichend für B: AB

A ist notwendig für B: ¬A ⇒ ¬B

Das Zeichen „¬“ ist die ist die Negation und steht somit für das Wort „nicht“.

Tatsächlich sind die Bezeichnungen „notwendig“ und „hinreichend“ in der Mathematik das jeweilige Gegenteil voneinander. Denn statt ¬A ⇒ ¬B kann man auch A ⇐ B schreiben. Denn wenn B gilt, dann muss auch A gelten, da A ja notwendig für B ist. Falls also A nicht gelten sollte, dann kann auch B nicht gelten. Somit ist aber B eben auch hinreichend für A.

Und wenn sowohl AB als auch A ⇐ B gelten, dann ist A ⇔ B. Also sind dann die Aussagen A und B äquivalent bzw. gleichbedeutend.

Schauen wir uns nach dieser kurzen Reminiszenz an die höhere Schulmathematik also den angeblichen Beweis von Ferber an.

Ohne Schwierigkeit kann man erkennen, dass die Einfache Richtwertmethode die α-Bedingung erfüllt. Denn

Aber ist damit auch bewiesen, dass die Einfache Richtwertmethode eine Gewichtung von 50 % aufweist?

Die Antwort ist nein. Denn die α-Bedingung ist nicht äquivalent zu der 50 %-Aussage. Die α-Bedingung ist nämlich nicht hinreichend für die 50 %-Aussage.

Für den Beweis des Nichthinreichens der α-Bedingung für die 50 %-Aussage genügt es bereits, wenn wir auch nur eine Zuschlagsformel finden würden, welche die α-Bedingung erfüllt, aber keine 50 %-Gewichtung aufweist.

Die simpelste Formel hierfür ist Z (L, P) = 1.

Diese Zuschlagsformel bewertet also jedes beliebige Angebot (unabhängig von L und P) immer mit dem Wert 1, unabhängig von Leistung und Preis des Angebots. Das mag zwar unter dem Gesichtspunkt der Vergabe eine unsinnige, weil für eine Zuschlagsentscheidung komplett ungeeignete Formel sein, aber aus mathematischer Sicht handelt es sich um eine völlig valide Zuschlagsformel, die geeignet ist, den gewünschten Beweis zu erbringen.

Man kann nun sehr leicht erkennen, dass die Zuschlagsformel Z (L, P) = 1 zwar die α-Bedingung erfüllt, aber sicherlich keine 50 %-Gewichtung umsetzt.

N.B. Eine andere, semantisch weniger sinnlose Zuschlagsformel, welche die α-Bedingung erfüllt, aber keine 50 %-Gewichtung umsetzt, ist Z (L, P) = L/(2P). Hier wird die Leistung also ins Verhältnis zum doppelten Preis gesetzt.

Aber wäre die α-Bedingung denn wenigstens notwendig für die 50 %-Aussage? Falls dem so wäre, dann würden aber weder die UfAB-II Formel noch die Interpolationsmethode die 50 %-Aussage erfüllen. Das würde bedeuten, dass man dann weder mit der UfAB-II Formel noch mit der Interpolationsmethode eine 50 %-Gewichtung herstellen könnte.

Denn man sieht bereits anhand des obigen Beispiels, dass weder die UfAB-II Formel noch die Interpolationsmethode die α-Bedingung erfüllen.

Sehen wir uns dazu stichprobenweise einige Beispiele an (die gesamte Gegenüberstellung kann beim Autor angefragt werden):

Gehen wir zunächst von α = 90 %  (Abschlag von 10 % auf Leistung und Preis) aus. Das heißt, sowohl Leistung und Preis werden mit 90 % angesetzt. Für das Angebot A ergeben sich damit folgende Werte:

ohne α α= 90 %
Angebot A A
Leistungskennzahl L 90 81
Wertungspreis P 730 € 657 €
Z (Einfache Richtwertmethode) 0,1233 0,1233
Z (UfAB-II Formel) 0,7582 0,7475
Z (Interpolationsmethode) 0,6389 0,6750

Der gewünschte identische Wert ergibt sich also nur für die Einfache Richtwertmethode, aber nicht für die UfAB-II Formel oder die Interpolationsmethode.

Gehen wir umgekehrt von 10 % Aufschlag auf Leistung und Preis aus, also α= 110 %

ohne α α= 110 %
Angebot A A
Leistungskennzahl L 90 99
Wertungspreis P 730 € 803 €
Z (Einfache Richtwertmethode) 0,1233 0,1233
Z (UfAB-II Formel) 0,7582 0,7752
Z (Interpolationsmethode) 0,6389 0,6028

Auch bei einem Aufschlag von 10 % dasselbe Bild: Der gewünschte identische Wert ergibt sich somit nur für die Einfache Richtwertmethode, aber nicht für die UfAB-II Formel oder die Interpolationsmethode.

Die Berechnung der weiteren Werte für die restlichen Angebotsbeispiele werden dem Leser zur Übung überlassen oder können beim Autor angefordert werden.

Diejenigen besonders interessierten Leser, die das Thema tiefer untersuchen wollen, sollen auf den Umstand hingewiesen werden, dass die UfAB-II Formel und die Interpolationsmethode hier ein unterschiedliches Verhalten – zumindest in Bezug von Angebot A – aufweisen:

Denn eine Preis- und Leistungsreduzierung um 10 % (α=90 %) führt bei der UfAB-II Methode zu einer niedrigen Zuschlagskennzahl, aber bei der Interpolationsmethode zu einer höheren Zuschlagskennzahl.

Genau umgekehrt verhält es sich bei einer Erhöhung von Leistung und Preis um 10 % (α=110 %). Jetzt erhöht sich die Zuschlagskennzahl der UfAB-II Formel und die Zuschlagskennzahl der Interpolationsmethode reduziert sich. Dieses seltsame und gegenläufige Verhalten der beiden Formeln wurde bereits in Vergabeblog.de vom 30/01/2020, Nr. 43122 angerissen.

Die α-Bedingung ist bereits schon nicht bei den beispielhaften Angebotswerten erfüllt. Umso weniger kann dann die α-Bedingung für die UfAB-II Formel oder die Interpolationsmethode grundsätzlich erfüllt sein. Wäre die α-Bedingung also eine notwendige Voraussetzung für die 50 %-Aussage, dann könnten diese beiden Methoden (UfAB-II Formel oder Interpolationsmethode) zumindest bei einer gewünschten 50 %-Gewichtung nicht angewendet werden. Und übrigens auch nicht die Mittelwert- oder die Median- oder die Referenzwertmethode, die nämlich alle die α-Bedingung genauso wenig erfüllen.

So kommt es anders als man denkt

Ferber bemüht sich erstmals in der Literatur, eine Definition dafür zu geben, was eine Gewichtung zwischen Leistung und Preis bedeuten soll. Laut dieser Festlegung bedeutet es, dass eine Leistungsanpassung um dem Faktor α in ein gewichtetes Verhältnis einer Preisanpassung ebenfalls um den Faktor α gesetzt wird. Im Falle einer 50 % zu 50 % Gewichtung bedeutet das also, dass eine Leistungsanpassung um dem Faktor α und eine Preisanpassung um dem Faktor α zu einer unveränderten Zuschlagskennzahl führt.

Dann allerdings würden weder die UfAB-II Formel noch die Interpolationsmethode zur Gewichtung in einem Vergabeverfahren eingesetzt werden können, denn diese Formeln würden gerade die Ferber-Definition nicht erfüllen und niemals eine 50 %-Gewichtung umsetzen können. Diese Konsequenz hatte Ferber allerdings bestimmt nicht so beabsichtigt.

Somit wird eine andere Definition des Gewichtungsbegriffs benötigt. Diese liegt bis heute nicht vor.

Immerhin definiert aber die Rechtsnorm §127 GWB, dass sich die Wirtschaftlichkeit aus dem besten Preis-Leistungsverhältnis bestimmt. Und für das Preis-Leistungsverhältnis liegt aus der Betriebswirtschaft eine Definition vor, nämlich der Quotient aus Leistung und Preis. Und diese Definition wird von der Einfachen Richtwertmethode semantisch zutreffend und mathematisch korrekt umgesetzt. Allerdings findet sich da eben keinerlei Hinweis oder Möglichkeit auf eine etwaige Gewichtung zwischen Leistung und Preis.

Die falsche Frage?

Wenn wir mathematisch nicht einmal beweisen können, ob die Einfache Richtwertmethode die 50 % Gewichtung umsetzt, müssen wir uns vielleicht mal fragen, was die Gewichtung des Preises gegenüber der Leistung überhaupt bedeutet.

Zunächst bildet die Einfache Richtwertmethode das Preis-Leistungsverhältnis ab. Es handelt also schlicht um den Quotienten Z = L/P.

Kennen wir denn noch andere Quotienten, die uns regelmäßig in der Lebensrealität begegnen?

Ja klar, zum Beispiel im Auto das Stundenkilometerverhältnis: v = s/t. Das ist also die Geschwindigkeit v, denn die berechnet sich als der Quotient aus der Strecke s und der Fahrzeit t. Haben wir uns da schonmal gefragt, ob die km mit 50 % Gewichtung in die Berechnung eingehen? Oder gar die Fahrzeit (Stunden) mit 50 %? Was würde eine Aussage bedeuten, dass man für das optimale Stundenkilometerverhältnis gerne die Fahrzeit mit höherer Gewichtung als die Strecke berücksichtigen möchte? Unsinnig, oder?

In den USA wird die Geschwindigkeit in „mph“, also „miles per hour“ statt km/h berechnet. Eine Meile entspricht in etwa 1,6 km. Heißt das, dass die Amerikaner die Fahrstrecke mit 60 % mehr in die Geschwindigkeitsberechnung einbeziehen als die Deutschen? Gerade dieses Beispiel zeigt, wie unsinnig es ist, eine Gewichtung in einen Quotienten hineinzuinterpretieren.

Oder ein anderes Beispiel: Der Vergaberechtsfachanwalt stellt Rechnungen auf Basis eines Stundensatzes, also dem Verhältnis von Euro/Stunden. Auch hier ist die Frage inhaltlich sinnlos, ob er dabei die Euros oder die Leistungsstunden höher gewichtet hätte.

Und noch ein ganz anderes Beispiel: Um herauszufinden, wer Fußballmeister wird, werden die Tore und Gegentore in Siege und Punkte umgerechnet und dann – ggf. unter Berücksichtigung der Tordifferenz – eine Rangfolge gebildet. Die Frage, mit welcher Gewichtung ein einzelnes Tor hier in die Rangfolgeentscheidung eingegangen ist, kann man nicht sinnhaft beantworten, oder?

All dies sind leicht erkennbar inhaltlich völlig unsinnige Fragen.

Fazit

Man kann nicht sagen, ob die Einfache Richtwertmethode eine Gewichtung von 50 % umsetzt. Alleine schon deswegen nicht, weil es andere Zuschlagsformeln gibt, die ebenfalls behaupten, die Gewichtung von 50 % korrekt umzusetzen, aber zu anderen Zuschlagsergebnissen führen. Welche dieser Formeln setzt dann also – falls es das überhaupt gäbe – die korrekte Gewichtung zwischen Leistung und Preis um?

Schon bereits die Frage, mit welcher Gewichtung der Preis oder die Leistung bei der Einfachen Richtwertmethode berücksichtigt wird, kann nicht gestellt werden, da man sie nicht sinnhaft beantworten kann.

Und weiter hat auch bislang noch niemand eine Definition gegeben, was die Gewichtung zwischen Leistung und Preis überhaupt bedeuten soll.

Ist der Beschluss der VK Lüneburg dann aber im Ergebnis zu beanstanden?

Nein, keineswegs, Denn völlig zutreffend ist ja, dass der Bieter alleine durch die Angaben in den Vergabeunterlagen – also dass als Wertungsmethode die Einfache Richtwertmethode verwendet wird – die genauen Informationen erhält, wie er sein Angebot auszurichten hat. Und zwar allemal besser als bei allen anderen Zuschlagsformeln, die eine Scheingewichtung zwischen Leistung und Preis vorgaukeln, aber im Endeffekt zu nicht vorhersehbaren Zufallsergebnissen führen können.

Daher ein Lob auf die Wertung mit dem echten Preis-Leistungsverhältnis, nämlich die Einfache Richtwertmethode. Zumindest solange sie nicht in einem Atemzug mit einer angeblichen 50 %-Gewichtung genannt wird.

Aufruf zur Faktencheck-Challenge (ein persönliches Wort des Autors)

Liebe Leserin, lieber Leser, es freut mich, wenn Sie sich mit meinem Beitrag auseinandersetzen und ich bin auf Ihre Reaktionen sowie gerne Ihre Widerlegungen meiner Argumente gespannt – hier unter dem Beitrag als Kommentar oder im Mitgliederbereich des DVNW, wo ich einen Thread zu diesem Beitrag eröffnet habe. Gerne können Sie auch eine E-Mail an redaktion@dvnw.de richten. Ich möchte Sie gerne zu einer Faktencheck-Challenge einladen: Den ersten Leser oder Leserin, die einen rechnerischen, mathematischen, logischen oder argumentativen Fehler in dem Aufsatz (Schreibfehler ausgenommen) findet, lade ich am Vorabend des DVNW Vergabetags 2024 zusammen mit einer Begleitperson seiner/ihrer Wahl zum Abendessen in Berlin ein. Die Reisekosten müsste der oder die Einreicher:in allerdings selber tragen.

The post Faktencheck Vergabemathematik: Der Mythos der 50 %-Gewichtung (VK Lüneburg, Beschl. v. 05.09.2023 – VgK-20/2023) appeared first on Vergabeblog.

Doch Rückwirkung von Vergabeauflagen, die zur Rückforderung von Fördermitteln führen? (VG Gießen, Urt. v. 11.12.2023 – 4 K 1641/22)

0
0
Liefer- & Dienstleistungen

EntscheidungZuwendungsempfänger müssen mit Rückforderungsbescheiden auch dann rechnen, wenn sie einen objektiven Vergabeverstoß begehen, obwohl ihnen die Vergabeauflage zum Zeitpunkt des Verstoßes per Zuwendungsbescheid noch nicht bekannt gegeben wurde. Denn Zuwendungsgeber können Widerrufs- und Rückforderungsbescheide wegen tatbestandlich objektiv vorliegender Vergabeverstöße auch dann erlassen, wenn der Zuwendungsbescheid samt verpflichtender Vergabeauflage dem Zuwendungsempfänger erst nach Erteilung des Auftrags bekanntgemacht wurde, wobei die Bewertung der Schwere des Verstoßes im Rahmen der Ermessensentscheidung erfolgt.

§§ 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, 36, 49a Abs. 1, 3, 40, 41, 43 VwVfG, § 114 VwGO

Sachverhalt

Der Zuwendungsempfänger als Kläger wendet sich gegen den (Teil-)Widerrufs- und Rückforderungsbescheid des Beklagten im Rahmen der institutioneller Förderung für den Jagdhaushalt für das Jahr 2018 unter anderem wegen vorgeworfener Vergabeverstöße.  Auch in der Vergangenheit im Jahr 2017 hatte der Kläger eine solche Förderung erhalten.

Er schloss im Dezember 2017 einen Vertrag über die Übernahme von Pressearbeit mit dem Auftragnehmer, der zum 01.01.2018 beginnen sollte. Zu diesem Zeitpunkt beabsichtigte der Kläger die institutionelle Förderung des Beklagten für das Jahr 2018 nicht mehr zu beantragen. Nach Besprechungen mit dem Beklagten ist der Kläger dazu bewegt worden, doch einen entsprechenden institutionellen Förderantrag zu stellen, was er im November 2018 tat.

Im Ergebnis ist ein Bewilligungsbescheid mit Datum vom Dezember 2018 gegenüber dem Kläger erlassen worden. Im Rahmen dieses Bewilligungsbescheids sind die Allgemeinen Nebenbestimmungen für die institutionelle Förderung (ANBest-I) zum Gegenstand des Zuwendungsverhältnisses gemacht worden.

Im Rahmen der Verwendungsnachweisprüfung ist ein Vergaberechtsverstoß aufgrund der Beauftragung der Pressearbeit festgestellt worden, zu dem der Kläger angehört wurde. Er nahm insoweit Stellung und trug vor, dass ein Ausschluss der vom vermeintlichen Vergabeverstoß betroffenen Ausgabe nicht rechtmäßig sei, weil für ihn im Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht absehbar gewesen sei, dass er gegen Vergabebedingungen verstoße, weil zum Zeitpunkt der Auftragsvergabe im Dezember 2017 noch kein Bescheid erlassen war.

Der Beklagte widerrief und forderte einen Teil der Zuwendung dennoch zurück, weil seiner Meinung nach dem Kläger die Vergabeverpflichtung im Rahmen der institutionellen Förderung, insbesondere aus der Vergangenheit, hätte bekannt sein müssen, sodass es die Auflage trotz des erst im Dezember 2018 erlassenen Bescheids Rückwirkung entfalten würde und daher der gesamte Förderposten von der Förderung auszuschließen sei.

Gegen diesen (Teil-)Widerrufs- und Rückforderungsbescheid wandte sich der Kläger vor dem Verwaltungsgericht mit der Klage.

Die Entscheidung

Das VG hat die Klage als unbegründet abgewiesen. Der Teilwiderrufs- und Rückforderungsbescheid sei rechtmäßig gewesen und habe den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt.

Es hat festgestellt, dass die Vergabeauflage durch die Ziffer 3 der ANBest-I in das Zuwendungsverhältnis wirksam einbezogen worden sei und der Kläger entgegen dieser Auflage bei der Beauftragung der Pressearbeit nicht vergabekonform gehandelt habe. Dabei machte es deutlich, dass es im Rahmen des Tatbestands des Widerrufs nach § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 VwVfG zunächst ausschließlich auf das Vorliegen eines objektiven Vergaberechtsverstoßes ankomme. Die Schwere des Verstoßes werde erst im Rahmen der Ermessensentscheidung gewürdigt.

Die Vergabeauflage in den Allgemeinen Nebenbestimmungen des Zuwendungsbescheids vom Dezember 2018 sei für das gesamte Förderjahr 2018 rechtlich bindend, mithin auch zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses im Dezember 2017 und des Beginns des Vertrags am 01.01.2018. Zwar könne die in Ziffer 3.1 der ANBest-I enthaltene Auflage äußere Wirksamkeit nach § 43 Abs. 1 Satz 1 HVwVfG erst ab Bekanntgabe des Bescheides im Dezember 2018 und damit nicht vor Dezember 2018 entfalten.

Es sei jedoch in einer Gesamtschau mit dem Regelungsgehalt des Bescheides vom Dezember 2018 davon auszugehen, dass die Auflage ihrem Inhalt nach rückwirkend mit Beginn des Jahres 2018 in Kraft treten solle. Denn die Landeszuwendung zur (ursprünglich nicht beabsichtigten) institutionellen Förderung würde für das gesamte Haushaltsjahr 2018 gewährt und sei damit notwendigerweise (zumindest weit überwiegend) rückwirkend erfolgt. Dem entspreche es auch, dass der Bewilligungszeitraum vom Januar 2018 bis zum Dezember 2018 festgelegt worden sei. Damit komme es auf die in der Instanzrechtsprechung unterschiedlich beurteilte Frage zum zeitlichen Geltungsbereich von mit Ziffer 3.1 der ANBest-I vergleichbarer Regelungen ohne erkennbare Regelung einer Rückwirkung nicht an, vgl. hierzu die bei VG Cottbus, Urteil vom 21. Dezember 2021 3 K 2560/17.

Ermessensfehler seien nicht ersichtlich, selbst wenn man nicht von einem intendierten Ermessen ausginge. Die Rückforderungsfrist sei überdies eingehalten, weil sie erst im Zeitpunkt des Eingangs der Stellungahme des Klägers nach seiner Anhörung zu laufen begonnen habe. Ein Verstoß gegen Treu und Glauben des Beklagten sei nicht gegeben, weil gegenüber dem Kläger zu keinem Zeitpunkt in zurechenbarer Weise der Eindruck erweckt worden sei, mit der Auftragsvergabe einverstanden gewesen zu sein.

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung des VG Gießen erinnert in dem Aspekt der Rückwirkung der Vergabeauflage stark an das Urteil des VG Magdeburg vom 19.09.2017, Az. 3 A 180/16, mit dem ebenfalls eine wirksam bestehende Vergabepflicht für Aufträge angenommen wurde, die zeitlich weit vor dem Erlass des widerrufenen Zuwendungsbescheides mit seiner Vergabeauflage erteilt wurden.

Das VG Magdeburg hat seine Auffassung nicht besonders detailliert oder ausführlich begründet. Es führte in seiner Begründung aus:

„Soweit der Kläger meint, dass die Auflage hinsichtlich der Vergabe im Jahr 2002 keine Rechtswirkungen entfalte, da Auflagen nur in die Zukunft wirken könnten, überzeugt dies nicht. Denn die streitgegenständliche Auflage regelt letztlich nur, dass die Vergabe nach den Vorschriften des Vergaberechts zu erfolgen habe. Dies schließt nicht aus, dass eine Vergabe bereits im Vorfeld durchgeführt wurde. Dann aber muss diese Vergabe – wie bereits ausgeführt – auch den vergaberechtlichen Vorgaben im Zeitpunkt der Ausschreibung/ Vergabe entsprechen. Anderenfalls könnte so das Vergaberecht signifikant unterwandert und damit ausgehöhlt werden. Letztlich war es aber der Kläger selbst, der die nunmehr in Frage stellenden Auflagen hat bestandskräftig werden lassen und sich damit den vergaberechtlichen Vorgaben des Zuwendungsbescheides unterworfen hat.“

Diese Ansicht wie auch die der nunmehr ergangenen Entscheidung des VG Gießen überzeugen nicht.

Möchte der Zuwendungsgeber Pflichten in ein Zuwendungsverhältnis zwecks Gestaltung der Förderung implementieren, so steht ihm neben einer fördervertraglichen Regelung die Möglichkeit eines Zuwendungsbescheids in Form eines Verwaltungsakts, der mit einer Nebenbestimmung verbunden werden kann, zur Verfügung. Nur so wird ein Zuwendungsverhältnis zwischen Zuwendungsgeber und Zuwendungsempfänger wirksam begründet. Das, was nicht in den Zuwendungsbescheid und die Nebenbestimmungen aufgenommen wird, wird nicht zum Gegenstand des Zuwendungsverhältnisses.

Der Grund hierfür liegt in § 43 VwVfG. Ein Verwaltungsakt wird gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird. Der Verwaltungsakt wird mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekannt gegeben wird. Ein Zuwendungsbescheid mit einer Vergabeauflage wird also im Fall des VG Gießen und Magdeburg dem Zuwendungsempfänger gegenüber in dem Zeitpunkt und mit dem Inhalt wirksam, in dem / mit dem er ihm bekanntgegeben wird. Das ist gemäß § 41 VwVfG der Fall, wenn der Zuwendungsbescheid mit Vergabeauflage dem Zuwendungsempfänger faktisch oder mit der Drei-Tages-Fiktion fiktiv zugeht.

Dem Kläger ist der Zuwendungsbescheid mit Vergabeauflage aber im Dezember 2018 zugegangen, obwohl der streitgegenständliche Vertrag für die Pressearbeit im Dezember 2017 geschlossen und eine Laufzeit ab dem 01.01.2018 auswies.

Vor Wirksamkeit der Vergabeauflage mit Bekanntgabe kann dem Zuwendungsempfänger nicht klar und bewusst sein, welche Rechte und Pflichten er im konkreten Zuwendungsverhältnis hat. Jedes Zuwendungsverhältnis ist einzigartig und hat gewöhnlich einen eignen individuellen Förderzweck sowie Regelungen, die nur für den konkreten Einzelfall gelten. Das wird besonders bei der Projektförderung deutlich, weil es sich um klar abgrenzbare Vorhaben handelt, ist aber letztendlich auch bei der institutionellen Förderung der Fall. In der Praxis macht es zwar bei der institutionellen Förderung regelmäßig den Anschein, als sei es eine durchlaufende und fortwährende Förderung, sodass sich Zuwendungsverhältnisse über Förderjahre vermischen könnten. Rechtlich ist es aber schlicht so, dass auch aus einer institutionellen Förderung kein Anspruch auf eine Folgeförderung entsteht, weil dies auch förderpolitisch gar nicht gewollt ist, auch wenn dies faktisch und praktisch den Anschein erweckt.

Nur die Tatsache, dass ein Zuwendungsempfänger in der Vergangenheit im Rahmen einer institutionellen Förderung Vergabepflichten einzuhalten hatte, kann nicht dafür ausschlaggebend sein, dass automatisch und reflexartig von Vergabepflichten im Zuwendungsverhältnis des darauffolgenden Förderjahres geschlossen wird. Das Gericht selbst bestätigt in seiner Begründung, dass der Bewilligungszeitraum vom Januar bis Dezember 2018 festgelegt war. Die Auflagen für dieses Förderverhältnis stehen mit Förderungen der Vergangenheit aber zunächst absolut nicht im Zusammenhang. Der Verweis des VG Gießen auf das Urteil des VG Cottbus geht fehl. Das VG Gießen meint, der Unterschied läge darin, dass das VG Cottbus über eine Vergabeauflage ohne erkennbare Anknüpfung an eine Rückwirkung zu entscheiden gehabt hätte, das VG Gießen selbst aber durchaus erkennbar Anhaltspunkte für eine Rückwirkung gehabt habe.

Das trifft nach Ansicht des Autors nicht zu. Denn die ANBest-I, wie sie grundsätzlich in Hessen verwendet werden, beziehen sich auch nur auf das geltende bzw. auferlegte Vergaberecht unter Nennung eines Katalogs für schwerer Verstöße. Aus dieser Formulierung geht nach Ansicht des Autors genauso wenig eine deutliche Anknüpfung an die Vergangenheit bzw. eine Rückwirkung der Vergabepflichten hervor wie im Fall des VG Cottbus, der die Rückwirkung verneint hat. Nach dem VG Cottbus sei zu berücksichtigen, dass die Behörde es in der Hand gehabt hätte, der Auflage durch entsprechende Regelungen und Formulierungen Rückwirkung beizumessen. Das sei nicht der Fall. Nach dem Wortlaut der Auflagen „sind vergaberechtliche Vorschriften bei der Vergabe zu beachten“ sei diese auf ein künftiges Verhalten gerichtet, vgl. VG Cottbus, Urteil vom 21. Dezember 2021 3 K 2560/17. Vielmehr spricht die dem vom VG Gießen zu entscheidenden Sachverhalt zugrunde liegende Formulierung geltende bzw. auferlegte Vergaberecht dafür, dass dasjenige Vergaberecht vom Zuwendungsempfänger anzuwenden ist, was ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe und damit der Wirksamkeit der Vergabeauflage gilt bzw. mit ihr auferlegt wird. Weder das geltende noch das auferlegte Vergaberecht besagen aber, dass Aufträge in der Vergangenheit vergabekonform gewesen sein müssen.

Selbst, wenn man sich auf den Standpunkt stellen würde, dass nach der Gestaltung bzw. Formulierung der Auflage diese später zwar wirksam werden, aber dann ab diesem Zeitpunkt der Bekanntgabe gleichzeitig Rückwirkung entfalten kann, so wäre zu erwarten, dass sich die Gerichte mit dem Institut der Rückwirkung detailliert und tiefgehend befassen, da dieser Aspekt immerhin ein tragender Grund der Entscheidung hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des Widerrufs und der Rückforderung war. Denn die vom VG Gießen angenommene Rückwirkung der Auflage dürfte eine echte Rückwirkung darstellen, weil sie in bereits abgeschlossene Sachverhalte der Vergangenheit (Vertragsschluss) eingreift. Solche sind aber grundsätzlich aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten (Rechtssicherheit und Vertrauensschutz) unzulässig, sodass eine inhaltliche Auseinandersetzung in der Urteilsbegründung sachgerecht gewesen wäre. Selbst aber, wenn man eine unechte Rückwirkung und ihre grundsätzliche Zulässigkeit annähme, wäre eine Interessens- und Güterabwägung unter Berücksichtigung des Vertrauensschutzes, der Grundrechte und des Sinns- und Zwecks der Vergabeauflage vorzunehmen, die nach Ansicht des Autors aufgrund der oben geschilderten Sachlage jedoch zu einem überwiegenden schutzwürdigen Interesse des Zuwendungsempfängers ausfallen würde. Solche Erwägungen sucht man in beiden Entscheidungen jedoch vergeblich.

Zu kurz greift jedenfalls ein Verweis auf die Gesamtschau des Förderfalls, weil es dennoch an der rückwirkenden Gestaltung der Auflage fehlt. An der Sache vorbei läuft auch das Argument der Verwaltungsgerichte, das Vergaberecht könnte ohne Rückwirkung der Vergabeauflage unterwandert werden. Denn es liegt eindeutig im Risikobereich und in der Herrschaftssphäre des Zuwendungsgebers zeitig (bestenfalls nach Förderantrag vor dem Förderzeitraum für die Zukunft) einen Zuwendungsbescheid zu erlassen und nicht erst im letzten Monat des Förderjahres. Selbst wenn der Zuwendungsempfänger zunächst nicht beabsichtigte sich fördern zu lassen und ihn der Zuwendungsgeber dazu zum Ende des Förderjahres angeregt hat, dann hätte dem Zuwendungsgeber erst recht einleuchten müssen, dass das Förderjahr sich dem Ende neigt und ausdrücklich Rückwirkungen in der Vergabeauflage formuliert sein müssen.

Auch vor dem Hintergrund des Bestimmtheitsgebots bezüglich der Auflage ergeben sich rechtliche Bedenken. Ist eine Auflage in einer die Schwelle von § 44 Abs. 1 VwVfG überschreitenden Weise unbestimmt im Sinne von § 37 Abs. 1 VwVfG, ist unerheblich, dass die Auflage zunächst zusammen mit dem Zuwendungsbescheid bestandskräftig geworden ist. Sie wird nichtig. Es kommt bei der Auslegung maßgeblich darauf an, wie der Betroffene selbst nach allen ihm bekannten Umständen in einer verobjektivierten Weise den materiellen Gehalt des Bescheids unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen musste. Inhaltlich hinreichend bestimmt ist eine Auflage nur dann, wenn nach diesen Maßgaben die von der Behörde getroffene Regelung so vollständig, klar und unzweideutig erkennbar ist, dass der Adressat sein Verhalten danach richten kann. Es reicht aus, wenn sich die Regelung aus dem gesamten Inhalt des Bescheids, insbesondere seiner Begründung, sowie den weiteren, den Beteiligten bekannten oder ohne weiteres erkennbaren Umstände unzweifelhaft erkennen lässt, vgl. VG Köln, Urteil vom 03.09.2015, Az. 16 K 3369/14.

Soweit diese Anforderungen nicht gewährleistet sind, kann sogar die Nichtigkeit einer Vergabeauflage vorliegen. In dem Fall des VG Gießen war bis Dezember 2018 gar keine Auflage vorhanden, dennoch erachtet es rückwirkende Vergabepflichten als begründet. Dabei wird verkannt, dass einem Zuwendungsempfänger das vom VG Köln geforderte Verständnis vom materiellen Gehalt des Bescheids, das Voraussetzung für die Wirksamkeit der Auflage ist, weil der Empfänger dann sein Verhalten danach ausrichten kann, rückwirkend komplett ins Leere läuft. Der Empfänger ist vor vollendete Tatsachen gestellt.

An der Sache vorbei geht auch das Argument, der Zuwendungsempfänger habe die Vergabeauflage bestandskräftig werden lassen und habe sich den vergaberechtlichen Regelungen unterworfen. Aus Sicht des Zuwendungsempfänger hat er sich gerade nicht bewusst dem Vergaberecht unterworfen, weil ihm im Dezember 2018, zum Zeitpunkt des Zuwendungsbescheids, als die Förderung schon fast ein Jahr lief, die Vergabeauflage nicht bekannt und nicht bewusst war.

Es bleibt daher zu hoffen, dass sich diese Rechtsansichten für die Wirkung der Vergabeauflage im Zuwendungsverhältnis nicht durchsetzen. Es ist Sache der Zuwendungsgeber das Förderverhältnis mit seinen Rechten und Pflichten klar und bestimmt zu regeln. Unterlassen sie dies, sollte dies zu ihren Lasten gehen, nicht jedoch zu Lasten der Zuwendungsempfänger.

Praxistipp

Die damalige Entscheidung des VG Magdeburg hat schon für nicht unerhebliche Rechtsunsicherheit insbesondere unter den Zuwendungsempfängern, die Rückforderungen fürchten, aber auch bei Zuwendungsgebern geführt, die sich nicht im Klaren darüber waren, ob sie Widerrufe und Rückforderungen auf in der Vergangenheit vor Erlass des Zuwendungsbescheids liegende Auftragsvergaben stützen dürfen. Die Entscheidung ist daher nicht zu Unrecht als ein wenig exotisch abgetan worden. Nunmehr wird erneut die Rückwirkung einer Vergabeauflage bekräftigt, was zu erneuten Unsicherheit in der Förderbranche führen wird.

Sollten Förderungen im Zuständigkeitsbereich der genannten Verwaltungsgerichte in Anspruch genommen werden, so ist dringend auf eine Abstimmung mit dem jeweiligen Zuwendungsgeber hinsichtlich der Reichweite der Vergabeauflage zu drängen. Sollte eine solche nicht zustande kommen können, so ist zu empfehlen, sämtliche geförderten Ausgaben auch nur vergabekonform zur Abrechnung im Verwendungsnachweisverfahren einzureichen und im Zweifel bei Rückforderungen aufgrund der Rückwirkung dagegen nach Prüfung des konkreten Einzelfalls vorzugehen. Das letzte Wort ist hier vor den Gerichten sicherlich noch nicht gesprochen.

The post Doch Rückwirkung von Vergabeauflagen, die zur Rückforderung von Fördermitteln führen? (VG Gießen, Urt. v. 11.12.2023 – 4 K 1641/22) appeared first on Vergabeblog.

Zu den Anforderungen an die Vergabedokumentation bei der Ausschreibung der Verwertung von vorbehandelten Bioabfällen (VK Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 19.12.2023 – VK2-18/23)

0
0
Liefer- & Dienstleistungen

EntscheidungFür die Zuordnung von vorbehandelten Bioabfällen zu einem bestimmten Abfallschlüssel gemäß der Verordnung über das Europäische Abfallverzeichnis (Abfallverzeichnis-Verordnung – AVV) gehört zu einer transparenten Vergabedokumentation auch die Anfertigung einer Abfallanalyse und die Niederschrift der daraus abzuleitenden Rechtsfolgen.

Bei der Ausschreibung der Verwertung von vorbehandelten Bioabfällen ist für eine transparente Vergabedokumentation eine Abfallanalyse notwendig, damit die Vergabekammer die korrekte Schlüsselung der Abfälle nach der AVV überprüfen kann.

§ 8 VgV

Sachverhalt

Der Antragsgegner schrieb in einem offenen Verfahren die Verwertung von vorbehandelten Bioabfällen aus der haushaltsnahen Erfassung aus. Die Vorbehandlung der Bioabfälle führt der Antragsgegner selbst durch, indem er die Bioabfälle in folgende drei Fraktionen siebt:

  • Feinkorn
  • Mittelkorn
  • Überkorn

Die Fraktionen Feinkorn (Los 1) und Mittelkorn (Los 2) waren Gegenstand der Ausschreibung.

Bei der Bestimmung der Abfallfraktion ist die Verordnung über das Europäische Abfallverzeichnis (Abfallverzeichnis-Verordnung – AVV) zu beachten. Der Antragsgegner hat in den Vergabeunterlagen die beiden Siebfraktionen den Abfallschlüsselnummern 20 02 01 (Abfallbezeichnung: biologisch abbaubare Abfälle) und 20 03 01 (Abfallbezeichnung: gemischte Siedlungsabfälle; hier: getrennt erfasste Bioabfälle, Biotonne aus Haushaltungen) zuzuordnen.

Die Antragstellerin rügte die Einstufung und hielt eine Neuschlüsselung der ausgesiebten Fraktionen für notwendig. Nach ihrer Auffassung sind die ausgesiebten Fraktionen dem Abfallschlüssel 19 12 12 (Abfallbezeichnung: sonstige Abfälle (einschließlich Materialmischungen) aus der mechanischen Behandlung von Abfällen.

Zur Begründung führte sie aus, dass gemäß § 6 Abs. 2 BioAbfV i. V. m. Anhang 1 Nr. 1 zur BioAbfV Abfälle mit dem Abfallschlüssel AVV 19 12 12 nicht zu den für eine Verwertung auf Böden geeigneten Bioabfällen zählen mit der Folge, dass ein Gärrest (fester Bestandteil nach Abschluss der Vergärung), in dem sich Abfälle mit dem Abfallschlüssel AVV 19 12 12 befinden, nicht derartig verwertet werden kann bzw. darf. Aufgrund dessen sei davon auszugehen, dass es nicht eine einzige Vergärungs- und/oder Kompostierungsanlage gibt, die den Abfallschlüssel AVV 19 12 12 positiv gelistet hat, also eine Genehmigung zur Annahme und Behandlung dieser Abfälle besitzt.

Nach Rügezurückweisung leitete die Antragstellerin ein Nachprüfungsverfahren ein.

Die Entscheidung

Die Vergabekammer gab dem Antrag statt und verpflichtete den Antragsgegner dazu, das Vergabeverfahren in den Losen 1 und 2 in den Stand vor Angebotsabgabe zurückzuversetzen und unter Beachtung der Rechtsprechung der Vergabekammer fortzuführen, sofern der Beschaffungsbedarf weiter fortbesteht.

Dabei hat die Vergabekammer die streitige Rechtsfrage, ob eine Neuschlüsselung der vorbehandelten Bioabfälle notwendig ist, nicht entschieden. Vielmehr kam sie unter Berufung auf ein Urteil des OLG Düsseldorf 20.12.2007 (VII-Verg 8/17) zu dem Schluss, dass diese Rechtsfrage von ihr (derzeit) nicht beantwortet werden kann, weil der Antragsgegner keine Abfallanalyse in der Vergabedokumentation hinterlegt hat.

Nach der Entscheidung des OLG Düsseldorf kommt es bei Änderung in der Zusammensetzung des Abfalls durch eine Vorbehandlung nämlich darauf an, unter rechtlich wertender Betrachtung möglichst vieler Tatsachenelemente zu prüfen und zu entscheiden, ob die nach der mechanischen Behandlung erreichte Zusammensetzung, und zwar nach Maßgabe eines unbestimmten Rechtsbegriffs, eine andere rechtliche Einordnung des Abfalls gebietet.

Als wesentliche Tatsachenelemente können insoweit insbesondere in Betracht kommen: Die Sortierung der ursprünglichen Siedlungsabfälle in sogenannten Fraktionen, eine Massenbilanz, die Veränderung der Eigenschaften und Beschaffenheit, etwa in Bezug auf Korngrößen und Brennwerte.

Das Fehlen einer Abfallanalyse und der daraus abzuleitenden Rechtsfrage der Erforderlichkeit einer Neuschlüsselung nach Vorbehandlung bewertet die Vergabekammer deshalb als Dokumentationsmangel.

Rechtliche Würdigung

Alle Verfahrensbeteiligten waren sich darüber einig, dass die Vorbehandlung sinnvoll ist, weil sie insbesondere den Zielvorstellungen des Landesumweltministeriums entspricht. Deshalb wird das von dem Antragsgegner praktizierte Verfahren auch im Abfallwirtschaftsplan Rheinland-Pfalz „Teilplan Siedlungsabfälle und andere nicht gefährliche Abfälle 2022“ beschrieben (S. 74).

Eine Vorbehandlung ist in aller Regel auch notwendig, um die Störstoffgrenzen der Bioabfallverordnung einhalten zu können. Das rechtliche Problem stellt hier nur das örtliche Auseinanderfallen von Vorbehandlung und Verwertung dar. Fänden beide Prozesse an einem Ort statt, löst sich das Problem in Wohlgefallen auf.

Ich möchte hier aber nicht die abfallrechtlichen Tiefen beleuchten; schließlich ist das hier der Vergabeblog und nicht ein Abfallblog.

Vielmehr möchte ich die Frage darauf lenken, welche Anforderungen an die Vergabedokumentation zu stellen sind. Meines Erachtens muss man hier unterscheiden, ob es um die nach den §§ 8 EU VOB/A, 8 VgV mindestens niederzulegenden Angaben geht oder ob es sich um andere Aspekte handelt, die nachträglich die fachliche Richtigkeit einer angefochtenen Vergabeentscheidung begründen sollen.

Geht es nur um die Rechtfertigung von Entscheidungen, ist nämlich regelmäßig eine Heilung durch Vortrag im Nachprüfungsverfahren möglich. Dies war hier leider nicht möglich, weil eine stichhaltige Abfallanalyse die Probenahme zu unterschiedlichen Vegetationsphasen voraussetzt. Während der Kürze eines Nachprüfungsverfahrens ist dies daher nicht leistbar.

Praxistipp

Bei der Vergabedokumentation verkehrt sich der Merksatz „Weniger ist Mehr“ leider in sein Gegenteil. Im Zweifel daher lieber mehr als zu wenig dokumentieren!

Und bitte nicht als lästige Pflicht empfinden. Schließlich hilft das Aufschreiben auch dabei, getroffene Entscheidung noch einmal kritisch zu hinterfragen und ggf. zu korrigieren.

Anmerkung der Redaktion

Der Verfasser hat in diesem Nachprüfungsverfahren den Antragsgegner vertreten.

The post Zu den Anforderungen an die Vergabedokumentation bei der Ausschreibung der Verwertung von vorbehandelten Bioabfällen (VK Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 19.12.2023 – VK2-18/23) appeared first on Vergabeblog.

Vergaberechtliche Auswirkungen der Postgesetznovelle 2024 auf die öffentliche Ausschreibung von Postdienstleistungen

0
0
Liefer- & Dienstleistungen

EntscheidungNoch kurz vor dem Jahreswechsel 2023/2024 hat das Bundeskabinett ein neues Postgesetz beschlossen, das wesentliche Änderungen der bisherigen Rechtslage enthält und die sich zukünftig erheblich auf die Abwicklung des Postverkehrs auswirken (BR-Drs. 677/23). Der Gesetzentwurf wurde dem Bundestag und Bundesrat zugeleitet, die sich zum Jahresbeginn 2024 damit befassen. Es wird erwartet, dass das neugefasste Gesetz das Verfahren ohne wesentliche Änderungen durchläuft und zeitnah in Kraft treten wird. Direkt betroffen ist die Beschaffung der Leistungen der Briefbeförderung durch die öffentliche Hand. Dieser Beitrag befasst sich mit wesentlichen Punkten der Novelle und gibt einen ersten Überblick über die möglichen vergaberechtlichen Auswirkungen.

Der Markt der Postvergaben

Jährlich werden in der Bundesrepublik etwa 250 neue Ausschreibungsverfahren der öffentlichen Hand hinsichtlich der Vergabe von Briefdienstleistungen (Beförderung von Briefsendungen) bekanntgemacht. Die Anzahl der Ausschreibungsverfahren ist in den vergangenen Jahren in etwa gleichgeblieben. Allein im Kalenderjahr 2022 wurden nach den Angaben der Auftraggeber diesbezügliche öffentliche Aufträge in einer Größenordnung von etwa 1,0 Mrd. EUR neu vergeben. Diese Aufträge machen damit einen großen Teil der erwirtschafteten Umsätze der Briefdienstleistungsunternehmen aus.

Der Anbietermarkt wird auch 16 Jahre nach vollständiger Liberalisierung des Briefmarkts zu etwa 85 % von der Deutschen Post AG und deren Tochtergesellschaft Deutsche Post InHaus Services GmbH beherrscht. Der Konzern ist marktbeherrschend im Sinne des Kartellrechts. Mehr als 300 aktiv tätige Wettbewerbsunternehmen sind ebenfalls am Markt etabliert und erbringen mit eigenen Kräften überwiegend regionale Dienstleistungen. Für die bundesweite Briefzustellung haben die Wettbewerbsunternehmen Partnernetzwerke gegründet, über die sie eine bundesweite Zustellung gewährleisten. Einzelheiten zur Markt- und Anbieterstruktur im Postsektor sind den instruktiven Sektorgutachten der Monopolkommission zu entnehmen, die ihr 13. Sektorgutachten 2023 jüngst veröffentlicht hat (veröffentlicht auf der Internetseite der Monopolkommission).

Die nunmehr beschlossene Postgesetznovelle ist die erste umfassende Überarbeitung des Postgesetzes 1997.

Vergaberechtlicher Rahmen

Die Leistungen der Briefbeförderung betreffen die Vergabe von Dienstleistungen i.S.v. § 103 Abs. 1 GWB. Diesbezüglich ergeben sich keine Besonderheiten. Nach der vergaberechtlichen Rechtsprechung gehört die Erbringung von Briefdienstleistungen nicht zu den sog. besonderen Dienstleistungen im Sinne von § 130 GWB, so dass auch nicht der hohe Schwellenwert von 750.000,00 EUR gilt (vgl. VK Bund, Beschl. v. 2.8.2017 – VK 2-74/17). Bei der Ausschreibung dieser Leistungen sind also sämtliche Vorschriften für Dienstleistungsvergaben insbesondere nach VgV zu beachten. Sektorenauftraggeber, die diese Leistungen im Zusammenhang mit der Ausübung einer Sektorentätigkeit vergeben, haben die spezifischen Sektorenvorschriften zu beachten (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 17.8.2022 – VII-Verg 50/21).

Vorgesehene Novelle des Postgesetzes

25 Jahre nach Inkrafttreten des Postgesetzes 1997 hat sich der Gesetzgeber zu einer umfassenden Reform entschieden. Diese Leistungen der postalischen Grundversorgung (Universaldienst) unterliegen nach wie vor einem umfassenden gesetzlichen Rahmen, der angemessene und ausreichende Postdienstleistungen, einen fairen Wettbewerb und angemessene Arbeitsbedingungen ermöglichen soll.

a) Veränderte Brieflaufzeiten

Ein wesentlicher Aspekt des neuen Postgesetzes betrifft eine Änderung des Universaldienstes und die Laufzeiten von Briefsendungen. Waren Briefe der Absender bisher zu 80 % bereits am nächsten Werktag zuzustellen, müssen die Sendungen gemäß § 18 der Neuregelung ab 2025 erst am dritten Werktag (zu 95%) und zu 99 % am vierten Werktag bei den Empfängern zugestellt sein. Der Briefverkehr wird also deutlich langsamer. „Universaldienstleister“ ist und bleibt die Deutsche Post AG, die sich zu der Erbringung des Universaldienstes verpflichtet hat. Das Unternehmen wird seine zukünftigen Leistungen nach Maßnahme des neugefassten Gesetzes erbringen und Briefsendungen im Universaldienst ab 2025 nur noch zu deutlich veränderten (herabgesetzten) Leistungsvorgaben verarbeiten und zustellen.

Ausgeweitet wurde auch der Umfang der Universaldienstleistungen. Zukünftig gehören auch sog. Teil- oder Konsolidierungsleistungen dazu, die die rabattierte Abholung und Vorsortierung von Briefen zugunsten der Deutsche Post AG betreffen.

b) Lizenzpflicht entfällt

Anbieter von Postdienstleistungen müssen sich fortan in einem Anbieterverzeichnis bei der Bundesnetzagentur eintragen lassen. Die bisher vorgesehene Pflicht zum Vorhalten einer Postlizenz entfällt (§ 4 ff. PostG n.F.).

c) Erweiterte Entgeltregulierung des marktbeherrschenden Unternehmens

Das bisherige Porto der Deutschen Post AG ist – insoweit erforderlich – bis zum Ende des Kalenderjahres 2024 genehmigt. Damit wird das regulierte Unternehmen auch 2024 einen neuen Entgeltantrag stellen. Es darf erwartet werden, dass sich das Porto des Unternehmens trotz herabgesetzter Leistungen ab dem kommenden Kalenderjahr erhöht.

Neu und erheblich ausgeweitet wurde die Entgeltgenehmigungspflicht durch die Bundesnetzagentur. Nur die Deutsche Post AG unterliegt bisher für ihr Porto für die Einlieferung von bis zu 49 Briefsendungen der vorherigen Entgeltgenehmigungspflicht durch die Genehmigungsbehörde.

Nach der Novelle muss sich das Unternehmen ab 2025 sein gesamtes Porto für die Erbringung von Briefdienstleistungen (bis 2000 g pro Briefsendung) vorab genehmigen lassen. Diese Verpflichtung besteht zukünftig mit Blick auf den gesamten Universaldienstbereich und damit also für die gesamten Briefdienstleistungen des Konzerns, § 40 Abs. 1 PostG. Der Entgeltgenehmigungspflicht unterliegen ab 2025 auch die Entgelte für die o.g. Teil- oder Konsolidierungsleistungen, da sie nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Gesetzes zu den Universaldienstleistungen gehören werden (§ 16 Abs. 1 Nr. 1, § 54 Abs. 1 PostG n.F.). Auch die Entgeltmaßstäbe für die Entgeltregulierung der Deutschen Post AG werden angepasst (§ 39 ff. PostG n.F.). Zukünftig sollen auch „Investitionen in den Postsektor“ und eine „ökologisch nachhaltige Postversorgung“ gefördert und bei der Entgeltgenehmigung berücksichtigt werden, § 47 PostG n.F..

d) Ausweitung des Universaldienstes und Umsatzsteuer

Gemäß § 4 Nr. 11b des Umsatzsteuergesetzes unterliegen postalische Universaldienstleistungen einer Umsatzsteuerbefreiung. Durch eine Ausweitung der Leistungen des postalische Universaldienstes werden sich zugunsten des Konzerns der Deutschen Post AG für die Erbringung von Teilleistungen (§ 54 Abs. 1 PostG n.F.) zusätzliche Umsatzsteuerbefreiungen ergeben. Darauf weist auch schon die Gesetzesbegründung hin (vgl. BR-Drs. 677/23, S.95). Die Deutsche Post AG schätzt, dass es sich um jährlich etwa 115 Mio. EUR handelt.

e) Arbeitsbedingungen im Postsektor

Zur Gewährleistung eines fairen Wettbewerbs und arbeits- und sozialrechtlicher Standards finden sich in der Neufassung des Postgesetzes außerdem erweiterte Regelungen zur Gewährleistung fairer Arbeitsbedingungen. So ist die Einhaltung angemessener Arbeitsbedingungen nun für alle Anbieter von Postdienstleistungen (Brief und Paket, einschließlich Subunternehmern) Voraussetzung für Marktzugang und Verbleib auf dem Markt. Auch Subunternehmen sind verpflichtet, sich in das Anbieterverzeichnis der Regulierungsbehörde eintragen zu lassen (vgl. oben b)). (Nur) für die Paketbranche wurde eine Subunternehmerhaftung für arbeits- und sozialrechtliche Vorgaben des jeweiligen Auftraggebers eingeführt (§ 9 PostG n.F.).

f) Nachhaltig ökologischer Postsektor

Gem. §§ 75 ff. der neugefassten Regelungen soll auch ein „ökologisch nachhaltiger Postsektor“ sichergestellt werden. Das Ziel ist eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen. Um Transparenz und Vergleichbarkeit herzustellen, sollen zunächst die Treibhausgasemissionen der Anbieter erfasst werden. Größere Unternehmen aus diesem Sektor haben ab 2025 die entsprechenden Daten bei der Bundesnetzagentur vorzulegen. Direkte Maßnahmen enthält die Postgesetznovelle nicht.

Vergaberechtlich Auswirkungen

Die bereits beschlossenen Änderungen des Postgesetzes wirken sich wesentlich auf bereits bestehende Vereinbarungen und zukünftig auszuschreibende Verträge aus. Die Änderung der Vorgaben an den Universaldienst, die Änderung der Leistungsvorgaben und die übrigen beschriebenen Anpassungen haben Auswirkungen auf die gegenwärtige und zukünftige Leistungserbringung der Anbieter von Briefdienstleistungen.

a) Bereits abgeschlossene Verträge

Die Leistungen der Briefzustellung werden seitens der öffentlichen Auftraggeber fast ausschließlich auf der Grundlage von langfristig laufenden Rahmenvereinbarungen beauftragt (§ 21 VgV). Wenn eine Vergabestelle in der Vergangenheit einen Rahmenvertrag abgeschlossen hat, wird sie auch im Hinblick auf die Änderung von Leistungen – insbesondere hinsichtlich der Brieflaufzeit – zu prüfen haben, ob eine seitens der Deutsche Post AG fortan erbrachte „langsamere“ Zustellung der Briefsendungen nach Maßgabe eines bisherigen langjährigen Rahmenvertrages überhaupt zugelassen ist. Dies wird nur in Ausnahmefällen der Fall sein, da die bisher ausgeschriebenen Verträge (und die Leistungsbeschreibungen) eigentlich immer die Vorgabe enthalten haben, dass die Briefsendungen der öffentlichen Hand mindestens zu 80 % am nächsten Werktag zugestellt werden müssen. Vielfach haben Vergabestellen auch schnellere Zustellzeiten verlangt und schnellere Zustellzeiten bei der Wertungsentscheidung besonders gut bewertet. Mit der vorgesehenen Änderung der Vorgaben den Universaldienst wird insbesondere der Konzern der Deutsche Post AG seine Laufzeiten anpassen (müssen). Werden dann ab 2025 auch die vertraglich bereits gebundenen Briefsendungen nur noch innerhalb von drei bis vier Tagen zugestellt, würde das Unternehmen die bisher vertraglich vereinbarten Leistungspflichten zukünftig nicht mehr erfüllen.

In diesen Fällen müsste der bereits geschlossene Rahmenvertrag – sofern möglich – angepasst oder anderenfalls kurzfristig gekündigt und neu ausgeschrieben werden.

Durch ein vertraglich nicht vorgesehenes, nachträgliches Zulassen einer um mehrere Tage langsameren Brieflaufzeit dürfte sich – wenn in dem Altvertrag keine ausdrückliche Öffnungsklausel vorhanden ist – eine vergaberechtlich nicht zugelassene, wesentliche Auftragsänderung während der Vertragslaufzeit ergeben, § 132 Abs. 1 GWB. Die nachträgliche Änderung einer in der Vergangenheit ausgeschriebenen und im Hinblick auf Brieflaufzeiten vereinbarten strengen Leistungsvorgabe stellt eine wesentliche Änderung des bereits bestehenden öffentlichen Auftrags dar. Gerade auch im Hinblick auf eine bundesweite Zustellung von Briefsendungen ergibt sich durch eine Ausweitung der Zustellzeitfenster eine ganz erhebliche Ausweitung des Anbieterkreises, da die Wettbewerbsunternehmen der Deutsche Post AG ebenfalls eine bundesweite Zustellung – zu zeitlich nur leicht verzögerten Bedingungen – anbieten und gewährleisten (vgl. Monopolkommission, a.a.O., S.14, 15, 18). (Erst) durch eine Verlängerung der Laufzeitvorgaben wird den Wettbewerbsunternehmen des marktbeherrschenden Konzerns ein bundesweiter Wettbewerb ermöglicht und für die öffentlichen Auftraggeber ein großer Anbieterkreis erschlossen. Demnach ergibt sich bei einer Verlängerung der Zustellzeiten eine ganz erhebliche Erweiterung der potentiellen Bieter und Verfahrensteilnehmer (vgl. § 132 Abs. 1 Nr. 1 a), b) und c) GWB). Altverträge müssten demnach regelmäßig neu ausgeschrieben werden, wenn längere Brieflaufzeiten möglich werden sollen. Dies gilt insbesondere auch für die Fälle, in denen eine Vergabestelle im Vergabeverfahren bei der Wertung bieterseits zugesagte, besonders kurze Zustellzeiten berücksichtigt hatte, denn in der Vergangenheit konnte eine sehr schnelle bundesweite Zustellung nur durch die Deutsche Post AG gewährleistet werden (vgl. OLG Celle, Beschl. v. 11.09.2018 – 13 Verg 4/18).

b) Lizenzpflicht und Eignungskriterien

Hinsichtlich der Änderungen mit Blick auf ein sogenanntes Anbieterverzeichnis ergeben sich keine wesentlichen Auswirkungen. Bei zukünftigen Ausschreibungen werden die öffentlichen Auftraggeber als Eignungsnachweis einen Eintragungsnachweis verlangen (vgl. § 48 VgV).

c) Entgeltregulierungsvorschriften

Die Vorschriften zur Entgeltregulierung wirkten sich auf öffentlich Ausschreibungsverfahren bisher nur mittelbar aus, da der Konzern Deutsche Post AG (als einziges entgeltreguliertes Unternehmen) bei größeren Aufträgen – wie es bei öffentlichen Ausschreibungen immer der Fall ist – nur einer nachträglichen Missbrauchsaufsicht unterlag. Dies ändert sich mit der Postgesetznovelle, da sich das Unternehmen nun sein gesamtes Porto im Universaldienst im Briefsektor vorab genehmigen lassen muss. Eine ausschreibende Stelle wird also eine erforderliche Entgeltgenehmigung der Verfahrensteilnehmer überprüfen müssen.

Entgeltregulierungsvorschriften hatten sich in der jüngsten Vergangenheit auf die Konsolidierungstochter der Deutschen Post AG (Deutsche Post InHaus Services GmbH) ausgewirkt, da die Bundesnetzagentur in 2023 gegen dieses Unternehmen ein Missbrauchsverfahren wegen missbräuchlich (zu niedrig) kalkulierter Entgelte einleitete. Nachdem das Unternehmen daraufhin im Dezember 2023 ankündigte, seine Entgelte an 12 Standorten bundesweit zu erhöhen, wurde das Verfahren eingestellt (vgl. BNetzA, Beschl. v. 18.12.2023 – BK5-23/020). Die angekündigten Preisanpassungen haben Auswirkungen auf laufendende oder gegenwärtig ausgeschriebene Verträge. Etwaig aufgrund einer Regulierungsmaßnahme der Bundesnetzagentur anzupassende Entgelte (dieses Konzerns) unterliegen ebenfalls den Vorschriften über die Änderung von öffentlichen Aufträgen (vgl. § 132 Abs. 3 Nr. 2 GWB).

d) Umsatzsteuer

Die Umsatzsteuerbefreiung für den Universaldienst (der Deutsche Post AG) wirkt sich ebenfalls unmittelbar auf den Wettbewerb in diesem Sektor aus, da – so die regelmäßig herrschende Auffassung – die sonstigen Anbieter von Postdienstleistungen grundsätzlich keiner Umsatzsteuerbefreiung unterliegen. Kann künftig ein Anbieter einer nicht zum Vorsteuerabzug berechtigten öffentlichen Stelle also ein Preisangebot für postalische Universaldienstleistungen ohne gesetzliche Umsatzsteuer unterbreiten, entsteht ihm ein beachtlicher Wettbewerbsvorteil gegenüber den anderen Anbietern. In diesem Zusammenhang ist eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahre 2020 (EuGH, Urt. v. 16.10.2019 – C-4/18) und die daraufhin ergangene Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH, Urt. v. 6.2.2020 – V R 36/19) von besonderer Bedeutung. Nach diesen Entscheidungen kommt es für die Bestimmung des Begriffs des Universaldienstes nicht darauf an, ob sich der Konzern der Deutsche Post AG selbst zum Universaldienst verpflichtet hat und Leistungen des postalischen Universaldienstes erbringt. Maßgeblich für die Begriffsbestimmung und eine mögliche Umsatzsteuerbefreiung ist vielmehr allein der Gegenstand der Leistung. Insoweit kann also auch für sonstige Wettbewerber des Konzerns eine Umsatzsteuerbefreiung in Betracht kommen. Entsprechendes ist gegebenenfalls zu überprüfen (vgl. VK Nordbayern, 29.10.2013 – 21.VK-3194-42/13).

Eine mögliche Umsatzsteuerbefreiung betrifft die angesprochenen Teilleistungen der Deutsche Post AG, da diese nach der Neufassung des Postgesetzes ebenfalls ausdrücklich zum Universaldienst gehören sollen und in der Praxis der öffentlichen Ausschreibung eine große Rolle spielen. Insoweit sich also sog. Konsolidierungsunternehmen (wie das oben genannte Tochterunternehmen der Deutschen Post AG) an einer öffentlichen Ausschreibung beteiligen, greifen sie hinsichtlich der Zustellung der Sendungen auf die (Universal-)dienstleistungen der Deutsche Post AG zurück. Deren diesbezügliche Umsätze mit Teilleistungen (§ 54 Abs. 1 PostG n.F.) sollen nicht der Umsatzsteuer unterliegen. Es bleibt abzuwarten, wie das Unternehmen bzw. die Finanzverwaltung mit einer diesbezüglichen Neuregelung umgeht.

Die vorgesehene Umsatzsteuerbefreiung für diese Großkundenangebote und Geschäftskundenangebote, die die Deutsche Post AG ausschließlich über sogenannte Konsolidierungsunternehmen (und ihre Tochter Deutsche Post InHaus Services GmbH) abwickelt, begegnet allerdings erheblichen Bedenken.

Nach der europäischen Mehrwertsteuerrichtlinie (RL 2006/112/EG, Art.132) ist es nur zugelassen, postalische Grundversorgungsleistungen für die Allgemeinheit (von allgemeinem Interesse) von der Umsatzsteuer zu befreien. Eine Steuerbefreiung kommt nicht für spezifische oder besondere Postdienstleistungen in Betracht. Dies ist im Jahre 2009 vom Europäischen Gerichtshof ausdrücklich klargestellt worden (Urt. v. 23.4.2009 – C-357/07). Die hier angesprochenen Teilleistungen der Deutschen Post AG für Großkunden sind keine Leistungen, die für die Allgemeinheit angeboten werden und betreffen auch nicht die gesamte Leistungskette von der Abholung bis zur Zustellung. Darüber hinaus ist die Umsatzsteuerbefreiung für besondere postalische Dienstleistungen auch nur zugelassen worden, um den Postdienst für die Allgemeinheit („alle Nutzer“, Art. 3 Abs. 1 RL 97/67/EG) erschwinglich zu halten (anders: Finanzgericht Köln, Urteil vom 02.02.2021 – 8 K 1248/18, nicht rechtskräftig, Revision eingelegt). Einzelheiten sind strittig. Im Rahmen von öffentlichen Aufträgen haben auch öffentliche Auftraggeber Richtlinienvorgaben zu beachten. Damit wird bei entsprechenden Vergaben zu prüfen sein, ob Angebote von Konsolidierern, die umsatzsteuerfreie Anteile beinhalten, berücksichtigt werden dürfen (VK Nordbayern, a.a.O.).

e) Arbeitsbedingungen im Postsektor und vergaberechtlich Regelungen

Bezüglich der Arbeitsbedingungen im Postsektor ergeben sich keine Besonderheiten, vgl. § 60 Abs. 2 Nr. 4 VgV. Die öffentlichen Auftraggeber prüfen die eingereichten Aufträge auch im Hinblick darauf, ob geltende sozial- und arbeitsrechtliche Normen eingehalten werden. Hierzu werden die Bieter im Regelfall eine Eigenerklärung abgeben, § 48 Abs. 2 S. 1 VgV.

f) Nachhaltige und ökologische Vorgaben

In der Vergangenheit hat bei der öffentlichen Ausschreibung von Briefdienstleistungen in ökologischer Hinsicht insbesondere das Gesetz über die Beschaffung sauberer Fahrzeuge (SaubFahrzeugBeschG) eine erhebliche Rolle gespielt. Es ist streitig, ob dieses Gesetz auf die Erbringung von Briefdienstleistungen anwendbar ist. Nach der Auffassung des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr kommt seine Anwendung auf die Erbringung von Briefdienstleistungen nur dann in Betracht, wenn die Leistungen für sich genommen auch wesentlich von einem Einsatz von Straßenfahrzeugen geprägt werden (vgl. BMDV, SaubFahrzeugBeschG 2022, Leitfaden für Vergabestellen, S.8). Da die Briefzustellung durch Postboten regelmäßig mit Fahrrädern oder auch zu Fuß abgewickelt wird, könnte die Anwendung des Gesetzes unzulässig sein. Einzelheiten sind aber noch streitig und sind derzeit etwa in München auch Gegenstand eines Nachprüfungsverfahrens.

Fazit

Die Novelle des Postgesetzes wird ab 2025 erhebliche Auswirkungen auf die Abwicklung des Briefverkehrs in der Bundesrepublik haben. Der Briefverkehr (über den Konzern Deutsche Post AG) wird zukünftig deutlich langsamer abgewickelt werden. Vergabestellen und Unternehmen werden sich auf die geänderten Leistungsvorgaben einstellen. Es bleibt abzuwarten, wie sich die vorgesehenen Änderungen auf die Sendungsmengen auswirken. Indes kann durch die Verlängerung von Brieflaufzeiten ein breiterer Wettbewerb erwartet werden.

Im Übrigen unterliegt das marktbeherrschende Unternehmen Deutsche Post AG mit seiner Konsolidierungstochter bezüglich der postalischen Universaldienstleistungen, zu denen dann auch die sogenannten Teil- oder Konsolidierungsleistungen gehören, einer engeren Entgeltregulierung. Das gesamte diesbezügliche Porto des Konzerns ist vorab durch die Bundesnetzagentur zu genehmigen.

Für die öffentlichen Auftraggeber – die die größte Kundengruppe der Briefdienstunternehmen darstellen – ergeben sich Anpassungserfordernisse. In der Vergangenheit abgeschlossene langfristige Rahmenverträge können ab der Geltung der neuen gesetzlichen Vorgaben nicht ohne weiteres auf längere Brieflaufzeiten angepasst werden. Vielmehr müssen die Vergabestellen nach Maßgabe der vergaberechtlichen Anforderungen wegen der grundlegenden Leistungsänderungen des postalischen Universaldienstes ab der Geltung der Neuregelung eine Neuausschreibung der Altverträge prüfen und angehen. Bei der Planung von neuen Ausschreibungsvorhaben muss geprüft werden, wie die geänderten zukünftigen Leistungsvorgaben erfasst werden.

Durch die übrigen vorgesehen Änderungen des Postgesetzes ergeben sich für die Beteiligten an den öffentlichen Ausschreibungen darüber hinaus keine tiefgreifenden Änderungen oder erhebliche Anpassungserfordernisse. Zusätzlich erforderlich gewordene Entgeltgenehmigungen und Nachweise sind abzufragen. Die Kalkulation der Angebotspreise hat fortan auch unter Berücksichtigung einer möglichen Umsatzsteuerbefreiung für den postalischen Universaldienst stattzufinden und ist dementsprechend zu überprüfen.

The post Vergaberechtliche Auswirkungen der Postgesetznovelle 2024 auf die öffentliche Ausschreibung von Postdienstleistungen appeared first on Vergabeblog.

Interimsvergabe – Ein Blick zurück in die Zukunft

0
0
UNBEDINGT LESEN!

Bei dem nach deutscher Rechtspraxis bereits seit vielen Jahren bemühten Rechtsinstitut der Interimsvergabe war der Blick bis zum 6. Dezember 2023 Richtung Luxemburg gerichtet. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hatte diesbezüglich den EuGH mittels Vorabentscheidungsersuchen angerufen (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 15. Februar 2023, Verg 9/22). Nachdem die Antragstellerin die sofortige Beschwerde in dem Hauptsacheverfahren vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf zurückgenommen und der Vergabesenat dies gegenüber dem EuGH angezeigt hatte, wurde die Rechtssache im Register des Gerichtshofs nach erfolgtem Streichungsbeschluss des EuGH gestrichen (EuGH, Streichungsbeschluss vom 6. Dezember, C-128/23 – Müller Reisen).

Das hat für die Vergabepraxis weitreichende Folgen. Eine Entscheidung aus Luxemburg wird es vorerst nicht geben. Mehr denn je kommt es auf eine vertiefte Auseinandersetzung der zuständigen Nachprüfungsinstanzen mit dem Rechtsinstitut der Interimsvergabe an. Dabei bedarf es insbesondere einer dezidierten Auseinandersetzung mit der Argumentationslinie des Oberlandesgericht Düsseldorf.

Der Beitrag setzt sich mit der aktuellen Gesetzeslage und Rechtsprechung zur Interimsvergabe – wobei die kritische Auseinandersetzung mit dem Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgericht Düsseldorf im Vordergrund steht – auseinander, um darauf aufbauend für die sich derzeit scheinbar in einer Konfliktlage befindlichen Nachprüfungsinstanzen konkrete Ableitungen vorzunehmen und Handlungsvorschläge zu unterbreiten.

Darüber hinaus möchte der Autor den Beitrag als Appell an den Gesetzgeber verstanden wissen, dieses praxisrelevante Thema im Rahmen der derzeit laufenden Konsultation zur Transformation des Vergaberechts nicht nur zu berücksichtigen, sondern möglichst ausgewogen unter Abwägung aller berechtigten Interessen in EU-rechtskonformer Weise einer gesetzlichen Neuregelung zuzuführen.

1. Einleitung

Öffentliche Auftraggeber können öffentliche Aufträge gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben, wenn äußerst dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die der betreffende öffentliche Auftraggeber nicht voraussehen konnte, es nicht zulassen, die Mindestfristen einzuhalten, die für das Offene und das Nichtoffene Verfahren sowie für das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb vorgeschrieben sind und die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit dem öffentlichen Auftraggeber nicht zuzurechnen sind („Dringlichkeitsvergabe“).

Die Interimsvergabe soll wiederum dann als Legitimationsgrundlage fungieren, wenn die Voraussetzungen der Dringlichkeitsvergabe gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV zwar nicht vorliegen, weil der öffentliche Auftraggeber die mit den äußerst dringlichen, zwingenden Gründen im Zusammenhang stehenden Ereignisse hätte voraussehen müssen und/oder die angeführten Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit in die Verantwortungssphäre des öffentlichen Auftraggebers fallen, aber eine kontinuierliche Aufgabenerfüllung im Bereich der Daseinsvorsorge sichergestellt werden muss („Interimsvergabe“).

Wie zahlreiche aktuelle Entscheidungen der vergaberechtlichen Judikatur und ein lebhafter Diskurs in der Vergabepraxis belegen, ist die Interimsvergabe höchst praxisrelevant. Die Auseinandersetzung mit den hiermit verbundenen Rechtsfragen kulminierte zuletzt in einem Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgericht Düsseldorf an den EuGH. Da allerdings die sofortige Beschwerde in der Hauptsache zurückgenommen wurde, ist eine die derzeitige Rechtspraxis stützende oder diese kassierende Entscheidung des EuGH in naher Zukunft nicht zu erwarten.

Eine die Interimsvergabe kassierende Entscheidung des EuGH hätte der Vergabepraxis zahlreiche Folgefragen erspart. Sofern man an dem Rechtsinstitut der Interimsvergabe festhält, ist auf Tatbestandsebene zu klären, ob es einer zeitlichen Befristung des interimsweise vergebenen Auftrags bedarf und wie verbindlich diese auszugestalten ist, ob eine Akzessorietät zwischen Interimsauftrag und einem bereits laufenden oder bevorstehenden Vergabeverfahren zur Beschaffung des eigentlichen Bedarfs erforderlich ist und ob bzw. wie eine Umgehungsabsicht resp. ein Bestreben zur Umgehung bestandskräftiger Beschlüsse einer Nachprüfungsinstanz ausgeschlossen werden kann und muss (vgl. dazu VK Südbayern, Beschluss vom 26. Juni 2023, 3194.Z3-3_01-23-9).

Gleichfalls unklar bleibt, ob die Interimsvergabe zur Durchführung eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb unter Berücksichtigung des in § 51 Abs. 2 VgV definierten Mindestmaßes an Wettbewerb durch Beteiligung von regelmäßig mindestens drei Bewerbern (so KG Berlin, Beschluss vom 10. Mai 2022, Verg 1/22) oder zu einer Direktvergabe legitimiert, ob Letzteres per se der Fall ist oder sich als ultima ratio lediglich aus der konkreten Dringlichkeitssituation (mit oder ohne Berücksichtigung des individuellen Verschuldensgrades) ergeben kann (so OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 24. November 2022, 11 Verg 5/22; OLG Rostock, Beschluss vom 9. Dezember 2020, 17 Verg 4/40).

Darüber hinaus wäre zu klären, ob (wie im Falle einer Dringlichkeitsvergabe) gemäß § 134 Abs. 3 S. 1 GWB eine Befreiung von der Informations- und Wartepflicht (ablehnend die VK Niedersachsen, Beschluss vom 6. Februar 2018, VgK 42/2017) und (wie im Falle einer Dringlichkeitsvergabe) gemäß § 17 Abs. 15 VgV eine Befreiung von der Pflicht zur elektronischen Kommunikation besteht und ob Verstöße auf Rechtsfolgenebene – d.h. Beanstandungen in Bezug auf die Ausgestaltung des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb (Mindestmaß an Wettbewerb) – vor den zuständigen Nachprüfungsinstanzen beanstandet werden können (so OLG Rostock, Beschluss vom 9. Dezember 2020, 17Verg4/40; ablehnend BayObLG, Beschluss vom 20. Januar 2022, Verg 7/21).

Eng verwoben mit der Frage, ob Beanstandungen in Bezug auf die Ausgestaltung des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb grundsätzlich justiziabel sind, ist die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen im Rahmen der Auftragswertschätzung – die insbesondere für das Erreichen oder Überschreiten der Schwellenwerte aus § 106 GWB relevant ist – der Wert des Interimsauftrags mit dem vorangegangenen Vertragswert zu kumulieren oder isoliert zu ermitteln ist (beide Varianten je nach Umständen des Einzelfalls in Betracht ziehend: OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 24. November 2022, 11 Verg 5/22) oder ob im Rahmen der Auftragswertschätzung der sich anschließende Hauptauftrag miteinzukalkulieren ist (so VK Südbayern, Beschluss vom 29. Oktober 2013, Z3-3-3194-1-25-08/13).

Schließlich wäre zu klären, ob eine unter Berufung auf das Rechtsinstitut der Interimsvergabe legitimierte Auftragsvergabe (wie im Falle einer Dringlichkeitsvergabe) gemäß Art. 28 Abs. 4 Verordnung (EU) 2022/2560 aus dem Anwendungsbereich der Foreign Subsidies Regulation führt und/oder gemäß § 6 Abs. 1 S. 3 WRegG von der Abfragepflicht im Wettbewerbsregister befreit.

All diese Fragen werden in der Praxis meist nur unzureichend berücksichtigt und durch die Rechtsprechung bisweilen höchst unterschiedlich behandelt. Hätte der EuGH – der Auffassung des Autors folgend – festgestellt, dass die Interimsvergabe mit geltendem EU-Recht nicht in Einklang zu bringen ist, hätte sich der Fokus der Nachprüfungsinstanzen zwangsläufig auf die Rechtsfolgenseite verschoben, die es ermöglicht, alle Interessen ausgewogen zu berücksichtigen.

2. Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorlagebeschluss des Oberlandesgericht Düsseldorf

Die Interimsvergabe ist nach Auffassung des Autors – in Einklang mit der Rechtsauffassung des Oberlandesgericht Düsseldorf – mit dem eindeutigen und eng auszulegenden Wortlaut des Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU nicht vereinbar (vgl. dazu unter lit. a.).

Darüber hinaus kommt auch keine Korrektur der Richtlinienvorschrift im Lichte des EU-primärrechtlichen Funktionsgewährleistungsanspruchs aus Art. 14 AEUV, wie das Oberlandesgericht Düsseldorf sie wegen eines angenommenen Spannungsverhältnisses zwischen EU-Primär- und Sekundärrecht erwägt, in Betracht (vgl. dazu unter lit. b.).

Der Vergabesenat hatte in seinem Vorlagebeschluss an den EuGH zunächst hervorgehoben, dass die tatbestandsreduzierende (und damit den Ausnahmetatbestand erweiternde) Auslegung der Dringlichkeitsvergabe aus § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV mit dem klaren Wortlaut des Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU nicht in Einklang zu bringen sei (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 15. Februar 2023, Verg 9/22).

Das Oberlandesgericht Düsseldorf sah sich gleichwohl veranlasst, dem EuGH die Frage vorzulegen, ob die EU-rechtliche Vorschrift des Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU im Lichte des EU-Primärrechts so auszulegen ist, dass das nach deutscher Rechtspraxis bereits seit vielen Jahren bemühte Rechtsinstitut der Interimsvergabe trotz des entgegenstehenden Wortlauts und trotz des Gebots einer restriktiven Auslegung legitimiert werden kann.

Konkret hat das Oberlandesgericht Düsseldorf die Frage vorgelegt, ob

„Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU mit Rücksicht auf Art. 14 AEUV einschränkend dahingehend auszulegen [ist], dass die Vergabe eines der Daseinsvorsorge dienenden öffentlichen Auftrags bei äußerster Dringlichkeit auch dann im Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung erfolgen kann, wenn das Ereignis für den öffentlichen Auftraggeber voraussehbar und die angeführten Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit ihm zuzuschreiben sind?“.

Der Senat hat es für möglich erachtet, dass Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU, sofern er aufgrund eines Spannungsverhältnisses zu Art. 14 AEUV einschränkend auszulegen sein sollte, trotz seines eindeutigen Wortlauts von § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV Raum für die Zulässigkeit der Interimsvergabe belassen könnte.

Aus Sicht des Autors ist es begrüßenswert, dass das Oberlandesgericht Düsseldorf die EU-rechtliche Problematik zum Anlass genommen hat, dem EuGH eine entsprechende Frage zur Auslegung im Lichte des EU-Primärrechts vorzulegen. Eine Positionierung zur Interimsvergabe bleibt dem EuGH nach dem Streichungsbeschluss allerdings vorerst verwehrt. Mehr denn je kommt es daher auf eine vertiefte Auseinandersetzung der zuständigen Nachprüfungsinstanzen mit dem Rechtsinstitut der Interimsvergabe an.

Zwar hatten sich bereits im Jahr 2022 weitere Obergerichte mit diesem Problemkreis befasst (OLG Bremen, Beschluss vom 1. April 2022, 2 Verg 1/21; KG Berlin, Beschluss vom 10. Mai 2022, Verg 1/22; BayObLG, Beschluss vom 31. Oktober 2022, VERG 13.22 V; OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 24. November 2022, 11 Verg 5/22), allerdings war die Frage der EU-rechtlichen Zulässigkeit der Interimsvergabe jeweils nicht entscheidungserheblich (und damit auch nicht vorabentscheidungsfähig).

Der Autor ist davon überzeugt, dass der EuGH das Rechtsinstitut der Interimsvergabe, wäre es nicht zum Streichungsbeschluss gekommen, für EU-rechtswidrig erklärt hätte.

a. Unvereinbarkeit der Interimsvergabe mit Wortlaut des Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU

Nach Auffassung des Autors kann das Rechtsinstitut der Interimsvergabe nicht unter dem eng auszulegenden Ausnahmetatbestand der Dringlichkeitsvergabe legitimiert werden. Eine derart extensive Auslegung ist weder mit dem Wortlaut aus § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV noch mit demjenigen aus Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU vereinbar.

Auch der Vergabesenat aus Düsseldorf sieht sich

[…] durch Art. 32 Abs. 2 lit. c der Vergaberichtlinie 2014/24/EU an einer entsprechend einschränkenden Anwendung des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV gehindert. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung von den nationalen Trägern öffentlicher Gewalt, alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem vom Unionsrecht verfolgten Ziel im Einklang steht […]. Der Senat erachtet den Wortlaut der Richtlinie als dahingehend eindeutig, dass er eine Außerachtlassung der Aspekte der Zurechenbarkeit und Vorhersehbarkeit nicht gestattet“ (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 15. Februar 2023, Verg 9/22).

Ähnlich kritisch wurde dies bereits durch die Vergabesenate in Bremen und Berlin beurteilt (OLG Bremen, Beschluss vom 1. April 2022, 2 Verg 1/21; KG Berlin, Beschluss vom 10. Mai 2022, Verg 1/22; a.A.: BayObLG, Beschluss vom 31. Oktober 2022, VERG 13.22 V; OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 24. November 2022, 11 Verg 5/22).

Die Rechtsauffassung der genannten Obergerichte ist damit auf Linie der bisherigen Rechtsprechung aus Luxemburg. Der EuGH hat bereits in einer früheren Entscheidung klargestellt, dass

Mitgliedstaaten […] weder in der Richtlinie 93/36 [Vorgängerrichtlinie zur Richtlinie 2014/24/EU] nicht geregelte Tatbestände für den Rückgriff auf das Verhandlungsverfahren vorsehen noch die dort ausdrücklich geregelten Tatbestände um neue Bestimmungen ergänzen [können], die den Rückgriff auf das Verhandlungsverfahren erleichtern, da sie sonst die praktische Wirksamkeit dieser Richtlinie beseitigen würden“ (EuGH, Urteil vom 8. April 2008, C-337/05).

Hinzutritt, dass sowohl die Organe der Europäischen Union als auch die Mitgliedstaaten gemäß Art. 216 Abs. 2 AEUV gehalten sind, den im EU-rechtlichen Rangverhältnis zwischen Primär- und Sekundärrecht anzusiedelnden (und damit auch gegenüber nationalen Regelungen Vorrang genießenden) Regelungsgehalt des Art. 13 Abs. 1 lit. d WTO Agreement on Government Procurement – der wortlautidentisch zu Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU (und damit auch zu § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV) gefasst ist – zu berücksichtigen.

b. Kein Spannungsverhältnis zwischen Art. 14 AEUV und Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU

Nach Ansicht des Verfassers fehlt es auch – und dies ist entscheidend für die Prognose einer abschlägigen Entscheidung aus Luxemburg – aus gleich mehreren Gründen an besagtem Spannungsverhältnis zwischen Art. 14 AEUV (dasselbe gilt für Art. 36 EU-Grundrechtecharta in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 EUV) und Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU:

(1) Der generell-abstrakte Regelungsgehalt des EU-Vergaberechts steht der Wahrnehmung von Aufgaben der Daseinsvorsorge nicht entgegen. Im Gegenteil gewährleistet das grundsätzlich geltende Postulat zur Durchführung wettbewerblicher Vergabeverfahren eine hohe Qualität der zu beschaffenden Leistungen und so auch der hiermit korrelierenden Aufgabenwahrnehmung im Bereich der Daseinsvorsorge. Eine qualitativ hochwertige Erfüllung von Aufgaben der Daseinsvorsorge ist ausweislich Art. 1 Protokoll Nr. 26 über die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (Anhang zum AEUV) sogar Bestandteil der gemeinsamen Werte der Union in Bezug auf Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse.

Art. 14 AEUV soll gewährleisten, dass „die Grundsätze und Bedingungen, insbesondere jene wirtschaftlicher und finanzieller Art, für das Funktionieren dieser Dienste [von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse] so gestaltet sind, dass [die Mitgliedsstaaten] ihren Aufgaben nachkommen können.

Art. 106 Abs. 2 AEUV stellt flankierend zu Art. 14 AEUV klar, dass die EU-wettbewerbsrechtlichen Regelungen aus Art. 101 ff. AEUV nur gelten, soweit ihre Anwendung die Wahrnehmung von Aufgaben der Daseinsvorsorge nicht verhindert. Auf Basis dieser Vorschrift hat die Europäische Kommission aufsetzend auf der Altmarktrans-Entscheidung (EuGH, Urteil vom 24. Juli 2003, C-280/00) das sog. DAWI-Paket bestehend aus der DAWI-Mitteilung, der De-minimis-Verordnung für DAWI, dem DAWI-Beschluss und dem DAWI-Rahmen (vgl. dazu den DAWI-Leitfaden der Europäischen Kommission) erlassen, das die eigentlich gegen geltendes EU-Beihilferecht verstoßende Subventionierung von Tätigkeiten im Bereich der Daseinsvorsorge bei Einhaltung bestimmter Voraussetzungen auf Tatbestands- oder Rechtfertigungsebene legitimiert.

Die Regelungen des EU-Vergaberechts bedürfen keiner vergleichbaren Ergänzung. Im Gegenteil sind die verfahrensbezogenen Vorgaben des DAWI-Pakets – insbesondere die Durchführung offener, transparenter und diskriminierungsfreier Bieterverfahren als Referenzmechanismus für die Gewährung einer dem Erforderlichkeitsprinzip entsprechenden Ausgleichszahlung – mit denjenigen des EU-Vergaberechts vergleichbar. In beiden Fällen werden auf EU-rechtlicher Ebene Spielregeln definiert, deren Regelungsgehalt der Wahrnehmung und Durchführung von Aufgaben der Daseinsvorsorge nicht entgegensteht.

(2) Dementgegen kann – nicht auf abstrakt-genereller, sondern auf konkret-individueller Ebene – ein im Einzelfall in die Verantwortungssphäre des öffentlichen Auftraggebers fallender Verstoß gegen geltendes Vergaberecht die für eine Aufgabewahrnehmung im Bereich der Daseinsvorsorge erforderliche Beschaffung zeitlich verzögern bzw. für einen bestimmten Zeitraum verhindern. Ein solch konkret-individueller Verstoß vermag aber kein Spannungsverhältnis zu dem Funktionsgewährleistungsanspruch aus Art. 14 AEUV zu begründen.

Der Funktionsgewährleistungsanspruch aus Art. 14 AEUV soll sicherstellen, dass die (abstrakt-generell gerade nicht aufgabenverhindernd wirkenden) gesetzlichen und regulatorischen Vorgaben der EU – nicht jedoch ein konkret- individuelles Verhalten auf mitgliedsstaatlicher Ebene – einer kontinuierlichen, unterbrechungsfreien Aufgabenwahrnehmung nicht entgegenstehen.

Dieselbe Regelungslogik greift auch im EU-Beihilferecht. Sofern die oben dargestellten Regelungen aus dem DAWI-Paket – mit dem das durch die abstrakt-generelle Regelung des Beihilfeverbots hervorgerufene Spannungsverhältnis zu Art. 14 AEUV und Art. 106 Abs. 2 AEUV aufgelöst werden soll – im Einzelfall nicht eingehalten werden, kann der konkret-individuelle Verstoß nicht unter Verweis auf den Funktionsgewährleistungsanspruch aus Art. 14 AEUV resp. Art. 106 Abs. 2 AEUV legitimiert werden.

Sofern es im konkreten Einzelfall also bspw. an einem den EU-beihilferechtlichen Anforderungen nicht genügenden Betrauungsakt mangelt oder dem Erforderlichkeitsprinzip weder durch Vorlage eines Wertgutachtens noch durch ein offenes, transparentes und diskriminierungsfreies Bieterverfahren entsprochen wird, verstößt die Subventionierung der betreffenden Aufgabe der Daseinsvorsorge gegen das EU-Beihilfeverbot aus Art. 107 Abs. 1 AEUV und kann mittels Unvereinbarkeitsbeschluss der Europäischen Kommission und bei Verstoß gegen das in Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV niedergelegte Durchführungsverbot durch Urteil eines mitgliedsstaatlichen Gerichts zur Rückforderung der Zahlungen zzgl. Zinsen führen.

Selbst wenn man entgegen vorstehender Argumentationslinie aber ein aus den vergaberechtlichen Ausschreibungsobliegenheiten erwachsendes Spannungsverhältnis mit Aufgaben der Daseinsvorsorge grundsätzlich annehmen wollte, hätte der Europäische Gesetzgeber dieses Spannungsverhältnis rechtsfolgenseitig bereits vollständig aufgelöst.

Gemäß Art. 2d Abs. 3 Richtlinie 89/665/EWG in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass

die […] Nachprüfungsstelle einen Vertrag nicht als unwirksam erachten kann, selbst wenn der Auftrag in nicht legitimierter Weise ohne vorherige Bekanntmachung und damit rechtswidrig vergeben wurde, wenn […] zwingende Gründe eines Allgemeininteresses es rechtfertigen, die Wirkung des Vertrags zu erhalten“.

Nachprüfungsinstanzen dürfen nach derzeit geltender Gesetzeslage auf EU-Ebene also auf die grds. gebotene Sanktion der „Unwirksamkeit“ – die der Aufgabenwahrnehmung in Abgrenzung zur festgestellten und anderweitig sanktionierten „Rechtswidrigkeit“ in Konstellationen eigens verschuldeter und/oder verantworteter Dringlichkeit entgegenzustehen vermag – im Bereich der Daseinsvorsorge verzichten, wenn alternative Sanktionen verhängt werden, Art. 2d Abs. 3 Richtlinie 89/665/EWG in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG.

Die alternativ zu verhängenden Sanktionen nach Art. 2e Abs. 2 Richtlinie 89/665/EWG in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG – d.h. die Verhängung von Geldbußen/-strafen gegen den öffentlichen Auftraggeber oder die Verkürzung der Laufzeit des Vertrags – konfligieren regelmäßig auch nicht mit der Kontinuität der Leistungserbringung. Die unter Verstoß gegen geltendes Vergaberecht erfolgte Beschaffung wird in gebotenem Maß „sanktioniert“ aber nicht verhindert.

Der Kreis schließt sich bei Betrachtung des Zuwendungsvergaberechts, im Rahmen dessen eine unter Berufung auf das Rechtsinstitut der Interimsvergabe erfolgte Direktvergabe resp. ein draufgestütztes Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb nach Auffassung des Autors gegen geltendes Vergaberecht verstößt und – sofern in den Zuwendungsbedingungen die Einhaltung EU-vergaberechtlichen Regelungen zur Auflage nach § 36 Abs. 2 Nr. 4 des jeweils einschlägigen Verwaltungsverfahrensgesetzes gemacht wurde – einen Verstoß gegen Förderbedingungen impliziert.

Eine Korrektur der im zuwendungsrechtlichen Kontext drohenden Rechtsfolge in Form eines (Teil-)Widerrufs der Zuwendungsbescheids und der (Teil-)Rückforderung der Zuwendungen zzgl. Zinsen wäre – anders als im Falle einer in vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren drohenden Unwirksamkeit des öffentlichen Auftrags – von Anfang nicht angezeigt, da zwar die die Tätigkeit subventionierende Zuwendung rückwirkend entfiele, die hier im Vordergrund stehende Wahrnehmung von Aufgaben der Daseinsvorsorge im Rahmen einer retrospektiven Fördermittelprüfung aber nicht mehr verhindert werden kann.

Soweit argumentiert wird, dass eine rechtsfolgenseitige Lösung nicht ausreiche, da die fehlende tatbestandliche Legitimation und die dadurch bedingte „Rechtswidrigkeit“ der in einer eigens verschuldeten/verantworten Dringlichkeitssituation erforderlichen Beschaffung den öffentlichen Auftraggeber resp. die für ihn handelnden Personen aufgrund des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung aus Art. 20 Abs. 3 GG davon abhalten könne, die Beschaffung zu tätigen (so Pauka, VergabeR 2023, 475), vermag diese ebenfalls nicht zu überzeugen.

Hierbei handelt es sich um ein Zirkelschlussargument. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung soll die Verantwortlichen anhalten, sich an geltende Gesetze – d.h. auch an geltendes EU-Vergaberecht – zu halten. Es dient gerade nicht dazu, einen in die eigene Verantwortungssphäre fallenden Verstoß – nur in diesen Fällen scheidet eine Legitimation über die Dringlichkeitsvergabe gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV aus – im Nachgang zu legitimieren.

Gleiches gilt im zuwendungsrechtlichen Kontext. Sofern der Einsatz von Zuwendungen in Bezug auf eine vergaberechtlich nicht legitimierbare Interimsvergabe bereits befürchten lässt, dass der betreffende Zuwendungsbescheid (zumindest teilweise) widerrufen und die Zuwendungen zzgl. Zinsen (zumindest teilweise) zurückgefordert werden, wäre der Interimsauftrag aus Eigenmitteln zu finanzieren und in gebotenem Umfang von den übrigen durch Zuwendungen finanzierten Folgebeschaffungen – wobei je nach Einzelfall eine dahingehende Abstimmung mit dem Zuwendungsgeber sinnvoll erscheint – abzugrenzen.

Auch der Umstand, dass der deutsche Gesetzgeber den auf EU-Ebene gewährten Umsetzungsspielraum – mit Ausnahme für die Beschaffung von Militärausrüstung zur unmittelbaren Stärkung der Einsatzfähigkeit der Bundeswehr (§ 3 Abs. 4 und 5 BwBBG) und für die Beschaffung von Infrastruktur für LNG-Terminals (§ 9 Abs. 1 Nr. 4 und 6 LNGG) – bisher nicht genutzt hat, muss bei der rein EU-rechtlich zu vollziehenden Beurteilung eines kolportierten Spannungsverhältnisses zwischen EU-Primärrecht (Art. 14 AEUV) und EU-Sekundärrecht (Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU) unberücksichtigt bleiben.

Es fehlt daher aus gleich mehreren Gründen an dem durch das Oberlandesgericht Düsseldorf erwogenen Spannungsverhältnis zwischen EU-Sekundär- und EU-Primärrecht. Eine einschränkende Auslegung des Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU über seinen eindeutigen Wortlaut hinaus kommt nicht in Betracht, so dass das Rechtsinstitut der Interimsvergabe auch unter Berücksichtigung des Funktionsgewährleistungsanspruchs aus Art. 14 AEUV nicht legitimiert werden kann.

3. Ableitungen für die Praxis und Ausblick

Es erstaunt, dass die Regelung des Art. 2d Abs. 3 Richtlinie 89/665/EWG in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG – obwohl das KG Berlin einen rechtsfolgenseitigen Lösungsansatz sogar in Betracht gezogen hat (KG Berlin, Beschluss vom 10. Mai 2022, Verg 1/22) – bisher in keiner obergerichtlichen Entscheidung zur Interimsvergabe berücksichtigt wurde.

Dies gilt umso mehr als die spezialgesetzlichen Regelungen in § 3 Abs. 4 und 5 BwBBG sowie § 9 Abs. 1 Nr. 4 und 6 LNGG den von Art. 2d Abs. 3 Richtlinie 89/665/EWG in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG eröffneten Umsetzungsspielraum bereits ausschöpfen und sich die VK Bund in einer rechtskräftigen Entscheidung zu Art. 60 Abs. 3 der Richtlinie 2009/81/EG – der zu Art. 2d Abs. 3 Richtlinie 89/665/EWG in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG inhaltsgleich gefasst ist – explizit positioniert sowie eine aus Sicht des Autors fundiert hergeleitete Entscheidung getroffen hat, in der sie die im Bereich der Daseinsvorsorge erforderliche Korrektur allein auf Rechtsfolgenseite vornimmt (VK Bund, Beschluss vom 19. September 2022, VK 2-80-22).

Nach Auffassung des Autors ist es daher bereits gegenwärtig möglich, den EU-rechtlichen Handlungsspielraum unter richtlinienkonformer Auslegung des § 135 Abs. 1 GWB auszuschöpfen. Die VK Bund erachtet das in § 135 Abs. 1 GWB angeordnete Unwirksamkeitsverdikt als in seiner Absolutheit nicht zwingend und hält es für möglich, dass ein Vertrag – sofern er in Einklang mit § 139 BGB und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf der Zeitschiene teilbar ist – ab einem bestimmten Zeitpunkt für unwirksam erklärt wird (VK Bund, Beschluss vom 19. September 2022, VK 2-80-22).

Alternativ könnte diese Rechtsfolge – gleichfalls in Einklang mit den EU-vergaberechtlichen Vorgaben – auch auf § 168 Abs. 1 GWB gestützt werden (so VK Niedersachsen, Beschluss vom 21. Juli 2023, VgK-16/2023, allerdings unter tatbestandlicher Legitimation des bis zur Überschreitung des erforderlichen Zeitraums vergebenen Teils des öffentlichen Auftrags).

Aus Sicht des Autors wäre es begrüßenswert, wenn die Bereitschaft extensiver Auslegung auf Tatbestandsebene einer lösungsorientierten Auslegung auf Rechtsfolgenseite weicht. Nur auf diese Weise wird zugleich höherrangigem EU-Recht entsprochen, der Kontinuität der Leistungserbringung im Bereich der Daseinsvorsorge Rechnung getragen und die general-präventive Wirkung effektiver Nachprüfungsmechanismen im Vergaberecht aufrechterhalten.

Die Pflicht zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes – auch und insbesondere – im Bereich der Daseinsvorsorge bei eigens verantworteten und vermeidbaren Verstößen gegen vergaberechtliche Ausschreibungsobliegenheiten folgt bereits aus dem Effektivitätsgrundsatz gemäß Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV, der infolge „unvollständiger“ EU-Gesetzgebung (und im Gleichlauf mit dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 47 Abs. 1 EU-Grundrechtecharta und dem „Fair Trial“-Grundsatz aus Art. 6 EMRK als Individualschutz) von den mitgliedsstaatlichen Gerichten und Behörden eine möglichst effektive Rechtsdurchsetzung EU-rechtlicher Bestimmungen verlangt, und in Art. 2 Abs. 8 Richtlinie 89/665/EWG in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG, wonach „die Mitgliedstaaten [sicherzustellen haben], dass die Entscheidungen der Nachprüfungsstellen wirksam durchgesetzt werden können“, für die Zwecke des Vergaberechts konkretisiert wurde.

Unabhängig davon, dass die VK Bund bereits einen Weg für eine Übergangslösung auf Basis der derzeit geltenden Gesetzeslage aufgezeigt hat, bedarf es mittelfristig legislativer Anpassungen, die – nach Kenntnisstand des Autors – bereits im Rahmen der derzeit laufenden Transformationsbestrebungen des Vergaberechts diskutiert und analysiert werden.

Aus Sicht des Autors bietet es sich an, die Regelungsmechanik des § 135 GWB – der im Rahmen der letzten Vergaberechtsreform bereits um die bis dahin nicht umgesetzte Möglichkeit zur Vornahme einer Ex-ante-Bekanntmachung ergänzt wurde – für den Bereich der Daseinsvorsorge um eine Ausnahmeregelung von dem derzeit absolut formulierten Unwirksamkeitsverdikt samt dann erforderlicher Möglichkeit zur Verhängung alternativer Sanktionen nach Art. 2 Richtlinie 89/665/EWG in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG zu erweitern.

Anders als im Rahmen der in § 3 Abs. 4 und 5 BwBBG und § 9 Abs. 1 Nr. 4 und 6 LNGG bereits erfolgten Umsetzung sollte der in Art. 2d Abs. 3 Richtlinie 89/665/EWG in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG vorgesehene Regelungsgehalt nicht lediglich wortlautidentisch übernommen, sondern innerhalb des EU-rechtlich gewährten Umsetzungsspielraums eine möglichst alle Interessen berücksichtigende Regelung geschaffen werden.

Den Nachprüfungsinstanzen sollte dabei grundsätzlich ein weiter Ermessensspielraum eingeräumt werden, um alle relevanten Faktoren wie die Schwere des Verstoßes, das Nachverhalten des öffentlichen Auftraggebers und den Umfang, in dem der Vertrag seine Gültigkeit behalten soll, berücksichtigen zu können.

Ein besonderes Augenmerk sollte dabei auf die alternativen Sanktionen nach Art. 2e Abs. 2 Richtlinie 89/665/EWG in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG – d.h. die Verhängung von Geldbußen/-strafen gegen den öffentlichen Auftraggeber oder die Verkürzung der Laufzeit des Vertrags – gelegt werden. Die durch das EU-Recht vorgegebenen Alternativsanktionen sind – anders als bei Umsetzung des BwBBG und LNGG geschehen – nicht nahezu wortlautidentisch zu übernehmen, sondern unter Wahrung des Bestimmtheits- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu konkretisieren. Darüber hinaus bedarf es einer dezidierten Auseinandersetzung mit den durch die Alternativsanktionen hervorgerufenen Schnittstellenfragen. Während sich bei der Verkürzung der Vertragslaufzeit insbesondere zivil- und vertragsrechtliche Abgrenzungsfragen stellen, unterfiele die Verhängung von Geldbußen/-strafen gegen den öffentlichen Auftraggeber (mangels Existenz eines Unternehmensstrafrechts) der Regelungsmechanik des Ordnungswidrigkeitenrechts.

Bei dieser Gelegenheit sollte auch Fragen der Vollstreckung Aufmerksamkeit gewidmet werden. Dies gilt insbesondere für die derzeit fehlende Vollstreckbarkeit des tenorierten Unwirksamkeitsverdikts (samt Einordnung desselben als Gestaltungs- oder Feststellungstenor), die damit korrelierende Erforderlichkeit zur Erweiterung des Tenors um ein Tun, Dulden oder Unterlassen (unter gleichfalls gebotener Wahrung der Beschaffungsautonomie des öffentlichen Auftraggebers). So hat etwa die VK Rheinland neben dem Tenor aus § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB die weitere Ausführung des öffentlichen Auftrags durch das per unzulässiger Direktvergabe bezuschlagte Unternehmen untersagt sowie dem öffentlichen Auftraggeber aufgegebenen, die Fortsetzung entsprechender Arbeiten vor Ort zu verhindern und (bei fortbestehender Beschaffungsabsicht) den Auftrag in dem Umfang, in dem die Leistungen noch nicht ausgeführt waren (unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer) zu vergeben (VK Rheinland, Beschluss vom 11. Mai 2023, VK – 9/2023-B).

Gleichfalls relevant ist der Umgang mit Rückabwicklungspflichten, die nach Auffassung des Autors (derzeit) eigentlich nicht Gegenstand des Vergaberechts (so aber tenorierend: VK Südbayern, Beschluss vom 26. Juni 2023, 3194.Z3-3_01-23-9; nicht tenorierend, aber in den Gründen feststellend: VK Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 16. Dezember 2022, VK 1 – 4/22), sondern allein des Haushaltsrechts sind (vgl. bspw. § 59 Abs. 1 BHO). Diese und weitere Aspekte der Vollstreckung sind sowohl mit der Regelfolge des Unwirksamkeitsverdikts als auch mit den in Ausnahmefällen in Betracht kommenden Alternativsanktionen untrennbar verbunden und aufgrund der in der Praxis zunehmenden Fälle bestehender Beharrungstendenz, in denen rechtskräftige Beschlüsse der zuständigen Nachprüfungsinstanzen ignoriert werden von Relevanz (vgl. dazu bspw. VK Südbayern, Beschluss vom 26. Juni 2023, 3194.Z3-3_01-23-9).

Unabhängig von den die Interimsvergabe betreffenden Fragestellungen und Folgeimplikationen und den weitreichenden Auswirkungen auf die Vergabepraxis bietet die derzeit geführte Diskussion zur tatbestandlichen Einordnung des Rechtsinstituts der Interimsvergabe auch Chancen für die Weiterentwicklung des Vergaberechts. Im Idealfall dient die Debatte also nicht nur als Beleg für die Diskursfähigkeit der Vergabepraxis, sondern auch als Nachweis für die Reflexions- und Transformationsfähigkeit des Vergaberechts und der mit ihm eng verbundenen Akteure.

Somit erwachsen aus der verstrichenen Möglichkeit einer Klarstellung offener Rechtsfragen durch den EuGH neue Chancen, die derzeit geführte Diskussion zur tatbestandlichen Einordnung des Rechtsinstituts der Interimsvergabe für die Weiterentwicklung der Vergabepraxis zu nutzen und die Reflexions- und Transformationsfähigkeit des Vergaberechts unter Beweis zu stellen.

The post Interimsvergabe – Ein Blick zurück in die Zukunft appeared first on Vergabeblog.

Auftragsänderung gem. § 132 GWB ohne ausdrückliche Vereinbarung? (EuGH, Urt. v. 07.12.2023 – C-441/22 und C-443/22)

0
0
BauleistungenUNBEDINGT LESEN!

EntscheidungDer EuGH hat im Zusammenhang mit wesentlichen Auftragsänderungen einerseits entschieden, dass eine Auftragsänderung auch ohne Vorliegen einer ausdrücklichen schriftlichen Vereinbarung gegeben sein kann und andererseits wenig überraschend festgestellt, dass der Umstand, dass ein gewöhnliches Wetter herrscht, nicht zur Verlängerung vertraglich vereinbarter Ausführungsfristen berechtigt. Praktische Konsequenzen für öffentliche Auftraggeber lassen sich trotzdem daraus ableiten.

Sachverhalt

Die Auftraggeberin, die bulgarische Gemeinde Razgrad, führte 2018 ein offenes Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags über den Bau einer Sporthalle in einem Berufsgymnasium dieser Gemeinde, finanziert mit Mitteln aus den ESI-Fonds, durch. In dem Verfahren wurde nur ein Angebot eingereicht. Laut Vertrag waren die Bauarbeiten bis zum 30.11.2019 abzuschließen.

Der Auftragnehmer setzte die Arbeit wetterbedingt und aus Gründen der Neugestaltung des Investitionsvorhabens mehrmals aus. Die tatsächliche Ausführung dauerte 525 Tage. Die vom Auftragnehmer vorgetragenen Gründe erstreckten sich nicht auf den gesamten Zeitraum der Verzögerung. Für die Verzögerung vom 30.01.2020 bis 24.02.2020 wurde weder eine Begründung vorgetragen noch berechnete der Auftraggeber eine Vertragsstrafe wegen Verzuges.

Als Sanktion hat der Leiter der Verwaltungsbehörde entschieden, „auf die Gemeinde Razgrad eine finanzielle Berichtigung in Höhe von 25 % der im Rahmen der ESI‑Fonds förderfähigen Kosten im Sinne von Art. 1 Abs. 2 des Gesetzes über die Verwaltung der ESI‑Fonds wegen Verstoßes gegen das Gesetz über die Vergabe öffentlicher Aufträge anzuwenden.“ Nach Ansicht des Leiters der Verwaltungsbehörde sei die Laufzeit des Vertrages eines seiner wesentlichen Elemente. Die Höchst-Ausführungsdauer hätte nicht überschritten werden dürfen, zumal die Ausführungsdauer Bewertungs­gegenstand im Vergabeverfahren gewesen sei. Eine Überschreitung dieser Ausführungs­fristen ohne objektive Rechtfertigung und ohne Bemerkungen des öffentlichen Auftraggebers beziehungsweise ohne Geltendmachung von Vertragsstrafen stelle eine rechtswidrige Änderung der Bedingungen des öffentlichen Auftrags dar.

Die Gemeinde erhob dagegen Klage beim Verwaltungsgericht Razgard. Das Gericht gab der Gemeinde mit der Begründung Recht, ein Vertrag über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags könne nur durch eine schriftliche Vereinbarung geändert werden. Vielmehr läge hier lediglich eine nicht ordnungsgemäße Erfüllung eines Vertrages vor. Dafür sei auch unerheblich, ob der Vertrag eine Vertragsstrafe wegen Verzuges vorsehe, die nicht angewandt worden sei.

Gegen dieses Urteil hat der Leiter der Verwaltungsbehörde Kassationsbeschwerde beim Obersten Verwaltungsgericht Bulgarien eingelegt.

Zusammen mit dem oben dargestellten Sachverhalt hat das Oberste Verwaltungsgericht einen zweiten, ähnlich gelagerten Sachverhalt dem EuGH zur Entscheidung vorlegt. Im zweiten Fall hatte die Gemeinde Balchik die Gestaltung der Küstenpromenade dieser Gemeinde nach einem offenen Verfahren mit zwei Bietern beauftragt. Auch hier war eine Ausführungsfrist vorgegeben, die erheblich überschritten worden ist. Ursache für die Verzögerung waren in diesem Fall einerseits ungünstige, allerdings gewöhnliche Wetterbedingungen und andererseits ein zum Zeitpunkt des Auftragsvergabe bestehendes gesetzliches Verbot, „in den nationalen Badeorten der Schwarzmeerküste während der Tourismussaison vom 15. Mai bis 1. Oktober Bau- und Installationsarbeiten durchzuführen“.

Das Oberste Verwaltungsgericht hat dem EuGH folgenden Vorlagefragen 1 und 2 vorgelegt:

Steht Art. 72 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2014/24 in Verbindung mit dessen Abs. 4 Buchst. a und b einer nationalen Regelung oder einer Praxis der Auslegung und Anwendung dieser Regelung entgegen, wonach ein Verstoß gegen die Vorschriften über eine wesentliche Änderung des öffentlichen Auftrags nur dann angenommen werden kann, wenn die Parteien eine schriftliche Vereinbarung/einen Anhang zur Änderung des Auftrags unterzeichnet haben?

Falls die erste Frage verneint wird: Steht Art. 72 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2014/24 in Verbindung mit dessen Abs. 4 Buchst. a und b einer nationalen Regelung oder einer Praxis der Auslegung und Anwendung dieser Regelung entgegen, wonach eine rechtswidrige Änderung öffentlicher Aufträge nicht nur durch eine von den Parteien unterzeichnete schriftliche Vereinbarung, sondern auch durch gegen die Vorschriften über die Auftragsänderung verstoßende gemeinsame Handlungen der Parteien erfolgen kann, die in der Kommunikation und deren schriftlichen Spuren (wie denen im Ausgangsverfahren) zum Ausdruck kommen, aus denen auf einen übereinstimmenden Willen bezüglich der genannten Änderung geschlossen werden kann?

Die Vorlagefragen 3 bis 5 der Rechtssache 443/22 betrafen insbesondere die notwendige Sorgfalt gem. Art. 72 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i der Richtlinie 2014/24, die ein Auftraggeber bei der Gestaltung eines Vergabeverfahrens aufwenden muss, um Umstände vorherzusehen, die später zu einer Verzögerung führen können, wie gewöhnliche Wetterbedingungen und gesetzliche Verbote.

Der EuGH hat über die Vorlagefragen als Rechtssachen C‑441/22 und C‑443/22 entschieden.

Die Entscheidung

Der EuGH hat die o.g.  Fragen 1 und 2 wie folgt beantwortet (EuGH, Urteil vom 07.12.2023 Rs. C-441/22 und C-443/22, Rdn. 65):

Somit ist auf die Fragen 1 und 2 in den Rechtssachen C‑441/22 und C‑443/22 zu antworten, dass Art. 72 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 4 der Richtlinie 2014/24 dahin auszulegen ist, dass, um eine Änderung eines Vertrags über einen öffentlichen Auftrag als „wesentlich“ im Sinne dieser Bestimmung einzustufen, die Vertragsparteien keine schriftliche Vereinbarung unterzeichnet haben müssen, deren Gegenstand diese Änderung ist, wenn sich ein übereinstimmender Wille, die betreffende Änderung vorzunehmen, auch aus u. a. anderen schriftlichen Äußerungen dieser Parteien ableiten lässt.“.

Die Fragen 3 bis 5 der Rechtssache 443/22 hat der EuGH wie folgt beantwortet (EuGH, Urteil vom 07.12.2023 Rs. C-441/22 und C-443/22, Rdn. 73):

Nach alledem ist auf die Fragen 3 bis 5 in der Rechtssache C‑443/22 zu antworten, dass Art. 72 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i der Richtlinie 2014/24 dahin auszulegen ist, dass die Sorgfalt, die der öffentliche Auftraggeber an den Tag gelegt haben muss, um sich auf diese Bestimmung berufen zu können, u. a. erfordert, dass der öffentliche Auftraggeber bei der Vorbereitung des betreffenden öffentlichen Auftrags die Risiken berücksichtigt hat, die sich für die Einhaltung der Frist für die Ausführung dieses Auftrags aus den gewöhnlichen Wetterbedingungen sowie aus den vorab bekannt gegebenen, während eines Zeitraums, der in den der Auftragsausführung fällt, geltenden gesetzlichen Verboten der Durchführung von Bauleistungen ergeben; dabei können derartige Wetterbedingungen und gesetzliche Verbote, wenn sie nicht in den das Vergabeverfahren regelnden Unterlagen vorgesehen waren, die Ausführung von Arbeiten, die die in diesen Unterlagen und dem ursprünglichen Vertrag über einen öffentlichen Auftrag festgelegte Frist überschreitet, nicht rechtfertigen.“

Rechtliche Würdigung

Nach deutschem Recht betrifft das Urteil hinsichtlich der Rechtssache C‑441/22 die Frage, ob eine wesentliche Änderung eines öffentlichen Auftrags gem. § 132 Abs. 1 GWB tatbestandlich vorliegen kann, wenn der Inhalt der Änderung nicht in einer ausdrücklichen schriftlichen Vereinbarung zwischen den Vertragsparteien niedergelegt ist.

Explizit befasst sich die Antwort auf die Fragen 1 und 2 mit der Auslegung von Art. 72 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 4 der Richtlinie 2014/24, in dem geregelt ist, unter welchen Voraussetzungen die Änderung eines Auftrags oder einer Rahmenvereinbarung als wesentlich anzusehen ist.

Die Fragen 3 bis 5 der Rechtssache C-443/22 betreffen nach deutschem Recht die Sorgfaltspflicht in Bezug auf die Vorhersehbarkeit von Umständen gem. § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB.

Den Feststellungen des EuGH ist zuzustimmen.

Das gilt einerseits für die Antworten auf die Fragen 1 und 2, dass es für die vergaberechtliche Würdigung einer möglichen Auftragsänderung nicht darauf ankommen kann, ob die Auftragsänderung ausdrücklich schriftlich vereinbart worden ist oder der ausdrückliche Wille beider Vertragsparteien, eine Auftragsänderung praktisch umzusetzen, durch andere schriftliche Äußerungen der Vertragsparteien erkennbar wird.

Das gilt ferner auch für die Antwort auf die Fragen 3 bis 5. Dass die rechtliche Begründung des EuGH für die Antwort auf die Fragen 3 bis 5 unter Verweis auf Erwägungsgrund 109 der Richtlinie 2014/24 knapp ausfällt (Rdn. 66 ff.), überrascht nicht, wenn man sich bewusst macht, dass der öffentliche Auftraggeber die Verzögerung nach Zuschlag einerseits durch den Hinweis auf gewöhnliches Wetter und andererseits durch Hinweis auf ein gesetzliches „Bau- und Installationsverbot“, das bereits zum Zeitpunkt der Auftragsvergabe bestanden hat, zu rechtfertigen versucht hat. Man möchte ausrufen „Oh, welch ein unvorhersehbarer Umstand: Heute ist Wetter!“.

Praxistipp

So wie die Feststellungen des EuGH als Binsenweisheiten erscheinen, wirken auch die Schlussfolgerungen für die Praxis öffentlicher Auftraggeber:

Prüfen Sie die möglichen Risiken der auszuschreibenden Leistung sorgfältig und bilden Sie die Risiken authentisch in den Vergabeunterlagen ab!

Bevor Sie diese Aussage als trivial abtuen: Gerade in Bezug auf Zeitpläne drohen Auftraggebern „systemimmanente Abweichungen“ der Realität von Planannahmen durch

  • Zeitvorgaben eines Fördermittelbescheides, die optimale Bedingungen in Bezug auf das Vergabeverfahren und die Leistungserbringung unterstellen,
  • Verzögerungen des Vergabeverfahrens durch „eigentlich steuerbare“ Umstände,
  • Verzögerungen der Leistungserbringung durch Umstände, die eigentlich vorhersehbar im Sinne des § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB und zumindest beeinflussbar sind.

Die gute Nachricht: Macht sich der Auftraggeber diese Risiken zu Beginn der Erstellung der Vergabeunterlagen so konkret wie möglich bewusst, versetzt er sich selbst in die Lage, diese mit den Instrumenten des Vergaberechts bestmöglich zu begrenzen und das Vergabeverfahren effektiv auszugestalten. Folgende Instrumente stehen dem öffentlichen Auftraggeber in Bezug auf den Zeitbedarf insbesondere zur Verfügung:

  1. Substantiierung des Zeitbedarfs durch eine Markterkundung
  2. Lösungsbeiträge der Bieter zur Minimierung von zeitlichen Risiken
    • Zusagen zu Ausführungsterminen als gewerteter Angebotsinhalt
    • Flankierende Konzepte als gewerteter Angebotsinhalt, sofern Zeitplan-Einhaltung komplexen steuerbaren Einflüssen unterliegt (also nicht: Wetter!)
    • Bewertung von Erfahrungswissen des Bieterpersonals (§ 58 Abs. 2 Nr. 2 VgV), sofern Zeitplan-Einhaltung steuerbaren Einflüssen unterliegt
  3. Bewusste Ausgestaltung erwartbarer Plan-B-Szenarien
    • Angemessene Vertragsstrafen bei Verzug
    • Modellierung von Überprüfungsklauseln im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 GWB (vgl. dazu EuGH vom 07.12.2023 Rdn. 71)
    • Verlängerungsmöglichkeiten in Bezug auf die Vertragslaufzeit

Dem Urteil des EuGH sind zumindest mittelbar Anregungen in Bezug auf das Verhältnis Öffentlicher Auftraggeber ./. Fördermittelgeber zu entnehmen: Wenn der EuGH Öffentliche Auftraggeber indirekt und richtigerweise auffordert, Risiken der Leistungserbringung authentisch in den Vergabeunterlagen abzubilden, sollten Öffentliche Auftraggeber im Bedarfsfall vor der Auftragsbekanntmachung Risiken auch gegenüber dem Fördermittelgeber thematisieren, um Spielräume zu klären.

Da Fördermittel wohl niemals Selbstzweck sind, sondern einem bestimmten angestrebten Zweck dienen, liegt es nahe, über die Erreichbarkeit des Zwecks eine gemeinsame Einschätzung unter Berücksichtigung der aktuellen Sachlage und absehbaren Risiken zu treffen. Ein Vergabeverfahren, das u.a. dem Sorgfaltsmaßstab des Erwägungsgrundes 109 der Richtlinie 2014/24 Rechnung trägt, braucht Zeit für die Erstellung qualitativ hochwertiger Vergabeunterlagen.

Es dürfte Fälle geben, in denen die Verlängerung der Ausführungsfrist durch den Fördermittelgeber die richtige Antwort ist. Gründe dafür wären etwa, dass die Erstellung der Vergabeunterlagen mehr Zeit beansprucht als vom Fördermittelgeber modelliert oder dass der Auftraggeber berechtigterweise Risiken abbilden will, die der Fördermittelgeber so nicht gesehen hat. Eine Ausrichtung an den haushaltsrechtlichen Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit (§ 7 BHO, § 7 Haushalts­ordnungen der Länder) dürfte in vielen Fällen für die Verlängerung der Ausführungsfrist durch den Fördermittelgeber sprechen.

Schließlich ist zu hoffen, dass die nationalen Gerichte das Urteil des EuGH nicht zum Anlass nehmen, den Sorgfaltsmaßstab, den öffentliche Auftraggeber bei der Erstellung der Vergabeunterlagen aufzuwenden haben, über den Wortlaut des Erwägungsgrundes 109 der Richtlinie 2014/24 auszudehnen. Die zunehmende Komplexität der Anforderungen an öffentliche Auftraggeber und die Auswirkungen auf die Gestaltung von Vergabeverfahren dürfte einen Beitrag zur fehlenden Attraktivität von Vergabeverfahren (vgl. Sonderbericht 28 des Europäischen Rechnungshofs : Öffentliches Auftragswesen in der EU, S. 57) leisten. Auch diese Komplexität wirkt somit der Erfüllung der o.g. haushaltsrechtlichen Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit entgegen.

Das Urteil des EuGH vom 07.12.2023 – C-441/22 „Obshtina Razgrad“ und C-443/22 „Obshtina Balchik“ gibt jedenfalls keinen Anlass, den Sorgfaltsmaßstab, den öffentliche Auftraggeber bei der Erstellung der Vergabeunterlagen aufzuwenden haben, über den Wortlaut des Erwägungsgrundes 109 der Richtlinie 2014/24 hinaus auszudehnen.

The post Auftragsänderung gem. § 132 GWB ohne ausdrückliche Vereinbarung? (EuGH, Urt. v. 07.12.2023 – C-441/22 und C-443/22) appeared first on Vergabeblog.

Begründungs- und Informationspflichten öffentlicher Auftraggeber bei (Nicht-)Ausschluss von Angeboten (EuGH, Urt. v. 21.12.2023 – C-66/22 – „Futrifer Industrias“)

0
0
Liefer- & DienstleistungenUNBEDINGT LESEN!

EntscheidungAnlässlich der Vorlage eines portugiesischen Gerichts befasst sich der EuGH mit den Verpflichtungen der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinienvorgaben zu den fakultativen Ausschlussgründen in nationales Recht. Die Entscheidung enthält wichtige Aussagen zu Begründungs- und Informationspflichten öffentlicher Auftraggeber bei der (Nicht-)Anwendung von Ausschlussgründen.

Art. 55 Abs. 2, Art. 57 Abs. 4 und 5 Unterabs. 2 Richtlinie 2014/24/EU

Leitsätze (nicht amtlich)

  1. Öffentliche Auftraggeber haben im eigenen Ermessen zu entscheiden, ob sie einen Bewerber oder Bieter wegen Vorliegens eines fakultativen Ausschlussgrunds ausschließen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichtet die Auftraggeber, eine konkrete und auf den Einzelfall bezogene Beurteilung der Verhaltensweise des Bewerbers oder Bieters auf Grundlage aller relevanten Umstände vorzunehmen.
  2. Im Lichte des allgemeinen Grundsatzes der guten Verwaltung müssen Auftraggeber auch die Entscheidung begründen, trotz Vorliegens eines fakultativen Ausschlussgrunds von einem Ausschluss abzusehen. Die Begründung ist den übrigen am Verfahren beteiligten Bewerbern und Bietern mitzuteilen, damit diese gegebenenfalls gegen die Entscheidung vorgehen können.

Sachverhalt

Die Entscheidung des EuGH geht auf einen Vorlagebeschluss des Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht, Portugal) zurück. Das Ausgangsverfahren betraf die Vergabe eines Auftrags über die Lieferung von Bolzen und Eisenbahnschwellen.

Nach dem anwendbaren portugiesischen Recht dürfen Unternehmen, gegen die eine verwaltungsrechtliche Sanktion wegen schwerwiegenden beruflichen Fehlverhaltens verhängt worden ist und die nicht inzwischen rehabilitiert wurden, nicht Bewerber oder Bieter in einem Vergabeverfahren sein. Gleiches gilt für Unternehmen, gegen die die portugiesische Wettbewerbsbehörde die Nebensanktion des Verbots der Teilnahme an öffentlichen Vergabeverfahren verhängt hat. Ferner regelt das portugiesische Recht, dass Angebote ausgeschlossen werden können, wenn starke Indizien dafür vorliegen, dass in dem Vergabeverfahren Praktiken stattgefunden haben, die zur Verfälschung des Wettbewerbs geeignet sind.

Der Auftraggeber beabsichtigt, der Firma Futrifer den Zuschlag zu erteilen, obwohl Futrifer zuvor von der portugiesischen Wettbewerbsbehörde wegen eines Verstoßes gegen Wettbewerbsrecht im Rahmen verschiedener Vergabeverfahren mit einer Geldbuße belegt worden war. Die Firma Toscca erhebt Klage gegen die beabsichtigte Zuschlagserteilung. Das Gericht der zweiten Instanz gibt der Klage statt und verpflichtet den Auftraggeber, den Auftrag an Toscca zu vergeben. Das daraufhin von Futrifer angerufene Oberste Verwaltungsgericht verweist den Rechtstreit zur erneuten Entscheidung an das Gericht der zweiten Instanz zurück. Nachdem das Gericht im Ergebnis bei seiner Entscheidung bleibt, legen der Auftraggeber und Futrifer Rechtsmittel beim Obersten Verwaltungsgericht ein.

Das Oberste Verwaltungsgericht hat Zweifel, ob die in Rede stehenden portugiesischen Regelungen zum Ausschluss von Unternehmen von Vergabeverfahren mit Unionsrecht vereinbar sind und legt die Angelegenheit dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.

Die Entscheidung

Der EuGH stellt fest, dass die in Rede stehenden Regelungen des portugiesischen Vergaberechts unionsrechtswidrig sind.

Die Richtlinienvorgabe in Art. 57 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. d) Richtlinie 2014/24/EU ermögliche einen Ausschluss nicht nur dann, wenn die wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweise gerade im Rahmen des Vergabeverfahrens stattgefunden hat. Die Mitgliedstaaten dürften die Reichweite der Ausschlussgründe nicht einschränken. Hiergegen verstoße die portugiesische Regelung.

Die Richtlinienvorgaben würden zudem vorsehen, dass der Auftraggeber bei der Anwendung der fakultativen Ausschlussgründe eine konkrete und auf den Einzelfall bezogene Beurteilung der Integrität und Zuverlässigkeit des Bewerbers oder Bieters vornehmen müsse. Der Auftraggeber müsse eine Ermessensentscheidung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit treffen. Durch die portugiesische Regelung, nach der die Beurteilung der Integrität und Zuverlässigkeit an eine Entscheidung der nationalen Wettbewerbsbehörde gebunden ist, werde das Ermessen des Auftraggebers beeinträchtigt. Dies sei gemeinschaftsrechtswidrig. Denn die Mitgliedstaaten dürften nicht das Ermessen des Auftraggebers bei Anwendung der fakultativen Ausschlussgründe beschränken.

Rechtliche Würdigung

In seiner Entscheidung befasst sich der EuGH zunächst mit der Frage, ob die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Richtlinienvorgaben zu den fakultativen Ausschlussgründen in nationales Recht umzusetzen. In früheren Entscheidungen hatte der EuGH die Auffassung vertreten, dass die Mitgliedstaaten entscheiden können, ob sie die fakultativen Ausschlussgründe im nationalen Recht umsetzen oder nicht (EuGH, Urteil v. 19.6.2019 – C-41/18 „Meca“, Rn. 33; Urteil v. 30.1.2020 – C-395/18 „Tim“, Rn. 34 u. 40; Urteil v. 3.6.2021 – C-210/20 „Rad Service“, Rn. 28). Diese Rechtsprechung gibt der EuGH nun ausdrücklich auf. Die Mitgliedstaaten seien verpflichtet, die fakultativen Ausschlussgründe in ihr innerstaatliches Recht umzusetzen. Spielräume bestünden nur für die Art und Weise der Umsetzung, nicht hingegen bezüglich des „Ob“ der Umsetzung. Die Mitgliedstaaten könnten entscheiden, ob sie den öffentlichen Auftraggebern die Anwendung der fakultativen Ausschlussgründe gestatten oder ob sie sie hierzu verpflichten.

Im Zusammenhang mit der Erörterung des Ermessensspielraums des Auftraggebers bei der Anwendung des fakultativen Ausschlussgrunds aus 57 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. d) Richtlinie 2014/24/EU stellt der EuGH fest, dass der Auftraggeber sich bei der Beurteilung des jeweiligen Einzelfalls grundsätzlich auf das Ergebnis stützen darf, zu dem eine nationale Wettbewerbsbehörde im Rahmen ihrer Verfolgung von Wettbewerbsverstößen gekommen ist. Der Auftraggeber dürfe dabei auch berücksichtigen, wenn die Behörde eine Geldbuße oder ein vorübergehendes Verbot der Teilnahme an öffentlichen Vergabeverfahren verhängt habe. Der Auftraggeber würde durch eine solche Entscheidung der Wettbewerbsbehörde jedoch weder gehindert noch davon entbunden, eine eigene Beurteilung der Integrität und Zuverlässigkeit des Bewerbers bzw. Bieters vorzunehmen.

Das vorlegende Oberste Verwaltungsgericht hatte auch gefragt, ob der Auftraggeber die Entscheidung über die Zuverlässigkeit des Bewerbers bzw. Bieters begründen muss. Hierzu stellt der EuGH fest, dass der Auftraggeber nach dem allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatz der guten Verwaltung bei der Ausübung der Entscheidung über den Ausschluss einer Begründungspflicht unterliege. Durch die Pflicht zur Begründung würde den Adressaten der Entscheidung ermöglicht, ihre Rechte geltend zu machen und in Kenntnis aller Gründe gegen die Entscheidung vorzugehen. Die Begründungspflicht bestehe insbesondere dann, wenn der Auftraggeber den Bieter wegen eines fakultativen Ausschlussgrunds wie Art. 57 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. d) Richtlinie 2014/24/EU ausschließe. Nach Art. 55 Abs. 2 lit. b) Richtlinie 2014/24/EU unterrichte der Auftraggeber auf Verlangen des Bieters so schnell wie möglich, in jedem Fall aber binnen 15 Tagen nach Eingang der schriftlichen Anfrage über die Gründe der Ablehnung seines Angebots.

Interessanterweise hebt der EuGH in diesem Zusammenhang ausdrücklich hervor, dass die Begründungspflicht ebenfalls bestehe, wenn der Auftraggeber zwar feststellt, dass einer der in Art. 57 Abs. 4 Richtlinie 2014/24/EU geregelten fakultativen Ausschlussgründe erfüllt ist, der Auftraggeber aber gleichwohl beschließt, den Bieter nicht auszuschließen (z.B. weil der Ausschluss unverhältnismäßig wäre). Eine solche Entscheidung berühre die Rechtsstellung aller am Verfahren beteiligten Bewerber bzw. Bieter. Diese müssten daher ihre Rechte geltend machen können müssen und „auf Grundlage der in dieser Entscheidung enthaltenen Gründe gegebenfalls entscheiden können müssen, mit einer Klage gegen die Entscheidung vorzugehen“. Die Begründung, von einem Ausschluss abzusehen, könne insoweit in die abschließende Entscheidung über die Vergabe des Auftrags an den ausgewählten Bieter aufgenommen werden.

Praxistipp

Das deutsche Vergaberecht setzt die Vorgaben aus Art. 57 Abs. 4 und 5 Unterabs. 2 Richtlinie 2014/24/EU GWB in § 124 Abs. 1 GWB um. Anders als die portugiesischen Regelungen statuiert § 124 Abs. 1 GWB keine Einschränkungen hinsichtlich des dem Auftraggeber bei der Entscheidung über das Vorliegen eines fakultativen Ausschlussgrunds zustehenden Ermessensspielraums.

Für die deutsche Vergaberechtspraxis interessant sind insbesondere die Ausführungen des EuGH zu den Begründungs- und Informationspflichten des Auftraggebers, wenn dieser einen fakultativen Ausschlussgrund für erfüllt ansieht, jedoch trotzdem von einem Ausschluss absieht. Der EuGH verlangt, dass anderen Bewerbern oder Bietern ermöglicht werden muss, „ihre Rechte geltend zu machen und in Kenntnis aller Umstände zu entscheiden, ob mit einer Klage gegen die Entscheidungen vorzugehen ist“. Die Bewerber oder Bieter müssen daher über die Gründe für das Absehen von dem Ausschluss informiert werden. Geht man davon aus, dass der EuGH mit „gegen die Entscheidungen vorgehen“ einen effektiven Primärrechtsschutz gegen die Entscheidung über das Absehen von dem Ausschluss des Mitbewerbers meint, dürfte hieraus folgen, dass Auftraggeber ihre Begründung jedenfalls in das Vorabinformationsschreiben nach § 134 Abs. 1 GWB aufnehmen müssen. Denn eine Herausgabe der Information erst auf Anfrage des Bewerbers oder Bieters gemäß § 62 Abs. 2 VgV nach Zuschlagserteilung würde nicht ausreichen, um die Möglichkeit von Primärrechtsschutz zu gewährleisten.

Der EuGH leitet die Pflicht zur Begründung und zur Information der durch die Entscheidung berührten Bewerber und Bieter aus dem allgemeinen Grundsatz der guten Verwaltung her. Dies wirft die Frage auf, in welchen über der vom EuGH behandelten Konstellation des fakultativen Ausschlussgrunds des Art. 57 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. d) Richtlinie 2014/24/EU hinaus eine Begründungs- und Informationspflicht anzunehmen sein könnte. Die Erwägungen des EuGH dürften auf die in § 123 Abs. 5 GWB geregelten Konstellationen übertragbar sein. Danach kann der Auftraggeber trotz Vorliegen eines zwingenden Ausschlussgrunds von einem Ausschluss absehen, wenn dies aus zwingenden Gründen des öffentlichen Interesses geboten ist oder ein Ausschluss offensichtlich unverhältnismäßig wäre. Die Situation ist insoweit vergleichbar mit derjenigen bei Absehen von einem Ausschluss trotz Vorliegens eines fakultativen Ausschlussgrunds.

The post Begründungs- und Informationspflichten öffentlicher Auftraggeber bei (Nicht-)Ausschluss von Angeboten (EuGH, Urt. v. 21.12.2023 – C-66/22 – „Futrifer Industrias“) appeared first on Vergabeblog.


Widerruf einer Zuwendung in Höhe von 25% auch bei kleinen Vergaberechtsverstößen geboten! (VG Halle, Beschl. v. 13.10.2023 – 3 A 256/21)

0
0
BauleistungenUNBEDINGT LESEN!

EntscheidungErgeht ein Zuwendungsbescheid unter der Auflage der Einhaltung des Vergaberechts und hat der Zuwendungsempfänger in einem Vergabeverfahren einen Bieter ungeachtet der Nichtvorlage von im Hinblick auf Nachunternehmer nachgeforderten Erklärungen nicht aus dem Vergabeverfahren ausgeschlossen, liegt ein Vergaberechtsverstoß vor. Dieser zwingt im Regelfall zum Widerruf der Zuwendung, sofern nicht außergewöhnliche Umstände des Einzelfalls eine andere Entscheidung möglich erscheinen lassen. Fehlt es an derartigen Umständen, bedarf es keiner besonderen Ermessenserwägungen. Für die Frage des Umfangs des Widerrufs hat sich der Zuwendungsgeber an den Leitlinien für die Festsetzung von Finanzkorrekturen, die bei Verstößen gegen die Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge auf von der EU finanzierte Aufgaben anzuwenden sind, zu orientieren. Dabei sind die Leitlinien nicht schematisch anzuwenden und etwaige atypische Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Beträgt der Korrektursatz danach 25% kann sich der Zuwendungsgeber hierauf stützen. Dass die vom Vergabeverstoß betroffenen Teilleistungen im Verhältnis zum Gesamtauftragswert nicht erheblich ins Gewicht fallen, spielt keine Rolle.

§§ 16 Abs. 1 Nr. 4, 16a Abs. 5 VOB/A; § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 VwVfG

Sachverhalt

Die klagende Gemeinde (Klägerin) führte auf Grundlage eines durch den beklagten Zuwendungsgeber (Beklagter) erlassenen Zuwendungsbescheids ein Vergabeverfahren durch. Unter Ziffer 6 des Zuwendungsbescheides – Nebenbestimmungen – wurde festgelegt, dass die ANBest-Gk (Allgemeine Nebenbestimmungen für Zuwendungen an Gebietskörperschaften und Zusammenschlüsse von Gebietskörperschaften) Bestandteil des Bescheides sind. Abweichend oder ergänzend von den ANBest-GK wurde in Ziffer 6.1 des Bescheides bestimmt, dass der Bescheid unter der Auflage der Einhaltung der vergaberechtlichen Bestimmungen ergeht. Die Klägerin war hiernach verpflichtet, die Regelungen des Gesetzes über die Vergabe öffentlicher Aufträge im Land Sachsen-Anhalt (LVG LSA) und die Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen Teil A (VOB/A) einzuhalten.

Die Prüfung der Vergabeakte durch den Zuwendungsgeber ergab, dass von den Nachunternehmern des bezuschlagten Bieters die Erklärungen nach § 10 und § 12 Abs. 2 LVG LSA trotz Nachforderung nicht vollständig beigebracht wurden. Daraufhin erließ der Beklagte den streitbefangenen Änderungs-, Teilwiderrufs- und Sanktionsbescheid. Der durch die Klägerin gegen diesen Bescheid eingelegte Widerspruch blieb ohne Erfolg. Die Klägerin beantragt, den Bescheid des Beklagten aufzuheben. Der Beklagte beantragt die Abweisung der Klage.

Die Entscheidung

Die Anfechtungsklage blieb erfolglos! Die Klage war zwar zulässig, erwies sich jedoch als unbegründet. Im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung hielt der durch den Beklagten erlassene Bescheid der Rechtmäßigkeitsprüfung stand.

Rechtsgrundlage des Bescheides war § 1 Abs. 1 S. 1 VwVfG LSA i.V.m. § 49 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 VwVfG, da der Zuwendungsbescheid der Beklagten mit Auflagen verbunden wurde, die von Klägerseite nicht erfüllt worden sind. Relevante Auflage waren dabei insbesondere die abzugebenden Erklärungen hinsichtlich eingesetzter Nachunternehmen. Diese Verpflichtung zur Abgabe der Erklärungen wurde indes nicht erfüllt. Der Zuschlag hätte daher nicht erteilt werden dürfen, vielmehr wäre das Angebot vom Vergabeverfahren auszuschließen gewesen (§§ 16 Abs. 1 Nr. 4, 16a Abs. 5 VOB/A). Der Nichtausschluss und die Bezuschlagung stellen einen Verstoß gegen die im Vergabeverfahren geltenden Gebote zur Transparenz und zur Gleichbehandlung dar.

Die Einwände der Klägerin gegen die Annahme eines Vergabeverstoßes greifen nicht durch. Sie macht ohne Erfolg geltend, dass die Leistungen der betroffenen Firmen keine Nachunternehmerleistungen sind. Nicht als Nachunternehmerleistung werden lediglich solche Teilleistungen qualifiziert, die sich auf reine Hilfsfunktionen beschränken, so zum Beispiel Speditionsleistungen, Gerätemiete, überwiegend auch Baustoff- und Bauteillieferanten. Bei der Untervergabe von ingenieurtechnischen Leistungen – wie hier der geologischen Untersuchung des Baugrundes und die Vermessung des Baufeldes – handelt es sich nicht um derartige auf Hilfsfunktionen beschränkte Teilleistungen. Vielmehr sind Planungs- und Vermessungsleistungen spezifische Bauleistungen, die, insbesondere, wenn sie als gesonderter Titel des Auftrags verzeichnet sind, im Wege eines Unterauftrages vergeben werden können. Bei den in Rede stehenden Leistungen handelt es sich nicht um bloße Hilfsfunktionen, sondern es handelt es sich um eine vom Auftraggeber explizit mit dem Leistungsverzeichnis abgeforderte Leistungen, deren Erbringung durch Dritte als Nachunternehmereinsatz zu qualifizieren ist.

Hinsichtlich der Ermessensausübung zwingen die haushaltsrechtlichen Gründe der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit bei Vorliegen von Widerrufsgründen im Regelfall zum Widerruf einer Subvention, sofern nicht außergewöhnliche Umstände des Einzelfalles eine andere Entscheidung möglich erscheinen lassen. Fehlen derartige Umstände bedarf es keiner besonderer Ermessenserwägungen. Darüber hinaus ergibt sich das intendierte Ermessen auch aus EU-Recht Art. 35 Abs. 2 lit. b der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 640/2014 da die streitbefangene Förderung sich auch aus EU-Mitteln ergibt.

Für die Frage des Umfangs des Widerrufs hat sich der Beklagte in sachgerechter Ausübung seines Ermessens an den Leitlinien für die Festsetzung von Finanzkorrekturen, die bei Verstößen gegen die Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge auf von der Union finanzierte Aufgaben anzuwenden sind, orientiert. Die durch die Beklagte vorgenommene Kürzung um 25 % erfolgte insofern rechtmäßig. Dass die durch den Vergabeverstoß betroffene Teilleistung im Verhältnis zum Gesamtauftragswert nicht erheblich ins Gewicht fällt, ist insofern irrelevant, da die Bewilligungsbehörde bei der Subventionsvergabe die Beachtung strenger Form- und Fristbestimmungen verlangen darf.

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts befasst sich mit der Frage nach der Rechtmäßigkeit der Kürzung von Zuwendungen im Falle (leichter) Vergaberechtsverstöße. Zutreffend stellt das Gericht insofern fest, dass aufgrund intendierten Ermessens kein Fehler bei der Ermessensausübung festzustellen ist. Richtigerweise folgt dies neben den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit auch aus EU-Recht.

Das Verwaltungsgericht betont, dass sich ein Zuwendungsgeber für die Frage des Umfangs des Widerrufs an den Leitlinien für die Festsetzung von Finanzkorrekturen, die bei Vergaberechtsverstößen auf von der Union finanzierte Aufgaben anzuwenden sind, zu orientieren hat. Diese richten sich zwar vorrangig an die Kommissionsdienststellen, um bei deren Bearbeitung von Fällen mit Unregelmäßigkeiten ein einheitliches Vorgehen zu gewährleisten. Den zuständigen Behörden in den Mitgliedstaaten, die selbst Unregelmäßigkeiten feststellen, empfehlen die Leitlinien jedoch, dabei dieselben Kriterien für die Korrektur anzuwenden (so auch zutreffend VG Cottbus, Urteil vom 03.02.2023 zum Az. 3 K 1618/19). Dabei sind die Leitlinien nicht schematisch anzuwenden und etwaige atypische Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Auch die Regelannahmen der Leitlinien entbinden daher den Zuwendungsgeber nicht davon, die Einzelumstände zu würdigen.

Auf die Frage, ob und in welcher Höhe dem Zuwendungsgeber durch eine rechtswidrige Auftragsvergabe letztlich ein wirtschaftlicher Schaden entstanden ist, kommt es dagegen so das Gericht zutreffend nicht an. Da sonstige Gesichtspunkte, die einen atypischen Sachverhalt und ein Absehen von der 25-prozentigen Kürzung der Zuwendung begründen könnten, für das Gericht nicht ersichtlich waren, war die vorgenommene Kürzung nicht zu beanstanden und damit der erlassene Bescheid rechtmäßig.

Praxistipp

Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts verdeutlicht die große Relevanz der Einhaltung der vergaberechtlichen Vorschriften bei mit Zuwendungen bzw. Fördermitteln finanzierten Projekten. Der Bieter ist in einem Vergabeverfahren bekanntermaßen gehalten, Unterlagen auch im Falle des Einsatzes von Nachunternehmern vollständig vorzulegen. Dies gilt erst recht dann, wenn der Auftraggeber Unterlagen explizit unter Setzung einer Frist nachfordert. Sieht der den Auftrag vergebende Zuwendungsempfänger hier über Defizite hinweg bzw. drückt – bildlich gesprochen – ein Auge zu, kann sich dies in der Verwendungsnachweisprüfung als fatal erweisen und einen Widerruf in Höhe eines bestimmten Korrektursatzes zur Folge haben. Dass die durch den Vergabeverstoß betroffene Teilleistung im Verhältnis zum Gesamtauftragswert nicht erheblich ins Gewicht fällt, ist dabei unbeachtlich! Auch vermeintlich kleine Vergaberechtsverstöße können mithin erhebliche Kürzungen der Zuwendungssumme zur Folge haben.

The post Widerruf einer Zuwendung in Höhe von 25% auch bei kleinen Vergaberechtsverstößen geboten! (VG Halle, Beschl. v. 13.10.2023 – 3 A 256/21) appeared first on Vergabeblog.

Haftung von Führungskräften bzw. leitenden Angestellten bei Vergabeverstößen

0
0

In dem Beitrag „Vergabefehler in Beschäftigungsverhältnissen und ihre Folgen für den Mitarbeiter“ (Vergabeblog.de vom 20/02/2020, Nr. 43051) ist bereits beleuchtet worden, dass für Beschäftigte, die mit der Durchführung von Vergabeverfahren betraut sind, die Gefahr der Haftung bei Vergabefehlern besteht. Wie verhält es sich aber, wenn neben den unmittelbar mit der Durchführung von Vergabeverfahren Beschäftigten darüber hinaus deren Führungskräfte bzw. leitende Angestellte mittelbar mit den Vergabeverfahren sowie Vergabeverstößen in Kontakt kommen?

Bereits besprochen wurde die praktische Relevanz von Vergabefehlern und ihren Folgen jedoch im Schwerpunkt ausschließlich für diejenigen Beschäftigten, die unmittelbar, selbst und persönlich an der wesentlichen Durchführung der Vergabeverfahren beteiligt sind. In diesem Beitrag soll beleuchtet werden, ob auch den Personenkreis der Führungskräfte eine Verantwortung bzw. Haftung treffen kann.

I. Begriff der Führungskraft / des leitenden Angestellten

Unter einer Führungskraft wird in der Führungslehre grundsätzlich eine Person verstanden, die in einem Wirtschaftssubjekt (Unternehmen, Personenvereinigungen, öffentliche Verwaltung) mit Aufgaben der Personalführung betraut ist. Einer solchen leitenden Führungskraft steht die Befugnis zu, im Rahmen des Direktionsrechts mittels Weisung Aufgabenträgern ausführende Tätigkeiten vorzuschreiben. Durch ihre Führungskompetenz übernehmen sie Fremdverantwortung und delegieren Durchführungskompetenzen. Zu den Führungsaufgaben einer Führungskraft gehören Organisation, Planung, Zielsetzung, Entscheidung, Koordination, Information, Mitarbeiterbewertung und Kontrolle (Altfelder/Bartels/Horn/Metze: Lexikon der Unternehmensführung, 1973, S. 83).

Einen Teil von Führungskräften nach obigem Verständnis bilden leitende Angestellte. Ein einheitlicher rechtlicher Begriff des leitenden Angestellten existiert nicht. Ein Leitbild des leitenden Angestellten im Rechtssinne ist § 5 Abs. 3 S. 2 BetrVG samt begriffsbildender Kriterien zu entnehmen. Konsens in höchstrichterlicher Rechtsprechung und Literatur besteht insoweit, dass leitender Angestellter nach § 5 Abs. 3 S. 2 BetrVG nur derjenige ist, dem unternehmerische (Teil)-Aufgaben übertragen sind und der dadurch unternehmerische Führungsaufgaben wahrnimmt. Der Gesetzgeber definiert in anderen Gesetzen mehrfach den Begriff des leitenden Angestellten durch Verweisung auf § 5 Abs. 3 BetrVG. Auch der kündigungsschutzrechtliche Begriff des leitenden Angestellten setzt – bei allen Unterschieden – die Übertragung und Wahrnehmung unternehmerischer Teilaufgaben bzw. -funktionen voraus. Damit unternehmerische Führungsaufgaben („spezifische unternehmerische Teilaufgaben”) iSd. ständigen Rechtsprechung des BAG zu § 5 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 BetrVG gegeben sind, muss der Angestellte eine für die Verwirklichung des Unternehmensziels bedeutsame Schlüsselposition innehaben, die ihn in die Nähe der Unternehmensleitung rückt (vgl. BAG vom 11.01.1995, Az. 7 ABR 33/94; BAG vom 25.10.2001, Az. 2 AZR 358/00).

Das heißt, Führungskräfte bzw. leitende Angestellte können grundsätzlich Mitglieder von Vorständen, von Aufsichtsräten, Verwaltungsräten, Geschäftsführer und andere Organmitglieder, aber auch Bürgermeister, Landräte, Leiter in Abteilungen, Referaten, Dezernaten, Gruppen und Teams sein, wobei die Aufzählung keinen Anspruch auf Vollständigkeit genießen soll. In jedem konkreten Einzelfall muss das begriffliche Vorliegen einer Führungskraft bzw. eines leitenden Angestellten geprüft und abhängig von der Struktur des jeweiligen Auftraggebers sowie der Funktion der jeweiligen Person beurteilt werden.

II. Grundsätze der Haftung

Eine Haftung von Führungskräften bzw. leitenden Angestellten für Vergabeverstöße kann sich grundsätzlich zunächst, insbesondere für Organe, unmittelbar aus spezialgesetzlichen Regelungen wie dem AktG, GmbHG, aber auch aus §§ 280, 823, 831 BGB, § 14 StGB, § 30 OWiG ergeben, wobei besondere Sorgfaltsmaßstäbe des ordentlichen Kaufmanns bzw. der Business Judgement Rule und ein Organisationsverschulden eine Rolle spielen können.

Führungskräfte sind im Regelfall nicht an der Durchführung von Vergabeverfahren beteiligt, sodass Vergabeverstöße nicht unmittelbar durch sie verursacht werden und eine unmittelbare Haftung regelmäßig ausscheidet. Es bedarf daher einer Haftung aus mittelbarer Zurechnung. Denkbar und mit folgenden Fragestellungen verbunden wäre eine solche mittelbare Zurechnung sowohl auf Seiten der öffentlichen Auftraggeber, als auch auf Seiten von Bieterunternehmen oder bei beratenden Dritten:.

  • Wie verhält es sich, wenn der Vorstand oder Geschäftsführer nicht ausreichend qualifiziertes und kompetentes Personal für die Einhaltung der Vergabepflichten des Auftraggebers bzw. Unternehmens vorhält und über vergabewidriges Handeln hinwegsieht?
  • Besteht eine Haftung, wenn der Aufsichts- oder Verwaltungsrat seine Kontrollfunktion nicht ordnungsgemäß ausübt, obwohl er Kenntnis von den vergabewidrigen Vorgängen beim kontrollierten Unternehmen hat.
  • Kann der Bürgermeister oder Landrat in die Haftung gezogen werden, wenn er nicht die Einhaltung des Vergaberechts in der Kommunal- bzw. Kreisverwaltung sicherstellt?
  • Wie verhält es sich, wenn der Vorstand oder Geschäftsführer entgegen der Beratung und trotz Hinweisen der unmittelbar mit der Durchführung betrauten Vergabeexperten in voller Kenntnis vergabewidrig die Zustimmung zu einem Zuschlag bzw. einer Direktauftrag erteilt?

1. Vorstand, Aufsichtsrat, Geschäftsführer

Im Rahmen der Haftung dieser Organe bzw. Organmitglieder und des entsprechenden Sorgfaltsmaßstabs des ordentlichen Kaufmanns existiert die so genannte Business Judgement Rule, die in Verbindung mit Vergabeverstößen relevant werden kann.

Die Business Judgement Rule beschreibt den Umfang des unternehmerischen Entscheidungsspielraums insbesondere von Vorständen und Geschäftsführern, der nicht gerichtlich überprüfbar ist. Danach haften Vorstände und Geschäftsführer dann nicht für negative Folgen unternehmerischer Entscheidungen, wenn die Entscheidung auf Grundlage angemessener Informationen, ohne Berücksichtigung sachfremder Interessen, zum Wohl der Gesellschaft und in gutem Glauben gefasst wurde. Eine Vielzahl gesetzlicher Regelungen ist Ausfluss dieses Sorgfaltsmaßstabs (vgl. Spindler, in: MüKo, § 93 AktG, Rn. 43 ff.).

Je nach Rechtsform des Unternehmens folgen sie aus der Leitungs- und Organisationsverantwortung, bei der Aktiengesellschaft aus den §§ 76, 93, 91, 111, 116 AktG oder bei der GmbH aus §§ 43 GmbHG, 130 Abs. 1 OWiG.

Der Vorstand hat für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen und der unternehmensinternen Richtlinien zu sorgen und wirkt auf deren Beachtung durch die Konzerneinheiten hin. Der Vorstand hat gemäß § 91 Abs. 2 AktG geeignete Maßnahmen zu treffen, insbesondere ein Überwachungssystem einzurichten, damit Entwicklungen, die den Fortbestand der Gesellschaft gefährden, früh erkannt werden. Die Vorstandspflichten ergeben sich daneben auch aus § 93 I 1 AktG, wonach die Vorstandsmitglieder bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden haben. Das Ausmaß der Aufsichtspflicht selbst wiederum hängt regelmäßig von den Umständen des Einzelfalls ab. So sind auf der einen Seite nur die Aufsichtsmaßnahmen zu treffen, die möglich, zumutbar und insbesondere auch im Verhältnis zu den Beaufsichtigten rechtmäßig sind. Auf der anderen Seite setzt die Pflicht nicht erst dann ein, wenn Verstöße bereits festgestellt worden sind, da deren Verhinderung gerade Sinn und Zweck der Aufsicht ist. Zu den gebotenen Aufsichtsmaßnahmen zählt daher nicht nur die sorgfältige Auswahl des betreffenden Personals, sondern gleichermaßen auch die stichprobenartige, überraschende Kontrolle der Mitarbeiter. Eine gesteigerte Aufsichtspflicht besteht jedenfalls dann, wenn bereits in der Vergangenheit Unregelmäßigkeiten vorgekommen sind (vgl. Schulz, Compliance in und für öffentliche(n) Vergabeverfahren, CCZ 2014, 126); Kapp, Gärtner: Die Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat bei Verstößen gegen das Kartellrecht, CCZ 2009, 168).

Gleiche Grundsätze gelten gemäß § 43 GmbHG für den Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Auch Geschäftsführer haben in den Angelegenheiten der Gesellschaft die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns anzuwenden. Die Geschäftsführer, die diese Obliegenheiten verletzen, haften der Gesellschaft solidarisch für den entstandenen Schaden (vgl. BGH, Urteil vom 04.11.2002, Az. II ZR 224/00).

Der Aufsichtsrat oder bzw. Verwaltungsrat hat die leitenden unternehmerischen Entscheidungen des Vorstands auf seine Zweckmäßigkeit, seine Rechtmäßigkeit sowie Wirtschaftlichkeit zu überprüfen. Dies beinhaltet sowohl eine präventive Kontrolle als auch eine vergangenheitsbezogene Prüfung.

2. Bürgermeister, Landrat

Die (strafrechtliche) Haftung des Bürgermeisters bei Vergabeverstößen stand zuletzt sogar vor dem BGH auf dem Prüfstand (vgl. BGH, Beschluss vom 08.01.2020, Az. 5 StR 366/19). Gegenüber der Gemeinde kann eine Verantwortlichkeit nach den jeweils geltenden kommunalrechtlichen Vorschriften eintreten, aber auch § 839 BGB, Art. 34 Abs. 1 GG können in Bezug auf Schadenersatzansprüche zum Zuge kommen. Eine Gemeinde hat einen Anspruch auf Schadensersatz gegen den Bürgermeister, wenn dieser seine Dienstpflichten während der Amtszeit verletzt hat (vgl. OVG Magdeburg, Beschlüsse vom 31.07.2019, Az. 1 L 68/19; 1 L 69/19; 1 L 70/19; VG Neustadt, Urteil vom 22.06.2022, Az. 1 K 507/18). Mehr als nur vergleichbar dürfte sich die Konstellation für einen Landrat als Leiter der Kreisverwaltung darstellen.

3. Sonstige Führungskräfte

Über die genannten Vorstände, Aufsichtsräte, Geschäftsführer, Bürgermeister und Landräte hinaus können weitere Personen in (auch angestellten) Leitungspositionen in Bezug auf eine Haftung als nicht unmittelbar handelnde Führungskräfte wie Leiter in Abteilungen, Referaten, Dezernaten, Gruppen und Teams in Betracht kommen.

Im Hinblick auf die Anwendbarkeit der Business Judgement Rule im Rahmen der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns als speziellem Sorgfaltsmaßstab ist jedoch festzustellen, dass nicht jede Führungskraft nach dem oben genannten Begriff diesen unternehmerischen „Haftungsfreiraum“ genießt, sondern eben nur wie ausgeführt die leitenden Angestellten, die zumindest teilweise unternehmerische Funktionen ausüben. Kann eine solche unternehmerische Funktion bzw. Schlüsselposition im Sinne des § 5 Abs. 3 S. 2 BetrVG im Einzelfall bejaht werden, so gelten für die Haftung die gleichen Maßstäbe der Business Judgement Rule wie bei Vorständen, Aufsichtsräten und Geschäftsführern (vgl. Bürkle, Fecker: Business Judgment Rule: Unternehmerischer Haftungsfreiraum für leitende Angestellte NZA 2007, 589).

Für übrige Führungskräfte ohne solche leitenden Funktionen iSd. § 5 Abs. 3 S. 2 BetrVG kann jedoch als mittelbar Handelnde im Übrigen eine Haftung nach den Grundsätzen des Organisationsverschuldens ohne die Privilegierung der Business Judgement Rule in Betracht kommen.

Das Organisationsverschulden ist eine Verschuldensform im Haftungsrecht. Anknüpfungspunkt für dieses Verschulden ist eine nicht ordnungsgemäße Organisation desjenigen, der für eine ordnungsgemäße Organisation verantwortlich ist. Rechtlich kann sich diese aus §§ 280, 823, 831 BGB, § 31 OWiG ergeben. Die Ursachen für ein Organisationsverschulden sind vielfältig und können in mangelhafter Organisation und Kontrolle, in fehlerhaften Prozessen, Abläufen, Kommunikationswegen, internen Leitfäden, Arbeitsanweisungen, aber ebenso in fehlenden personellen Ressourcen, mangelnder erforderlicher Infrastruktur liegen.

III. Praktische Fallbeispiele

  • Wenn ein Vorstandsmitglied, Mitglied des Aufsichtsrats oder ein Geschäftsführer eines öffentlichen Auftraggebers darüber informiert wurde und positive Kenntnis darüber hat, dass die unmittelbar mit der Durchführung von Vergabeverfahren betrauten Beschäftigten nicht nur vereinzelt, sondern regelmäßig und berechtigt seitens der Bieter mit Rügen und Nachprüfungsverfahren von Bietern konfrontiert werden und trifft er keine Maßnahmen zur Beseitigung der systematisch vergabewidrigen Zustände, dürfte er in der Regel außerhalb des Schutzes des Sorgfaltsmaßstabs der Business Judgement Rule handeln. Solche Vorgänge können über die zunächst stichprobenartige, überraschende Kontrolle des betreffenden Personals hinaus sogar zu einer neuen Auswahl des betreffenden Personals verpflichten, insbesondere wenn in der Vergangenheit vergaberechtliche Unregelmäßigkeit bereits vorgekommen sind. Von genannten Organen ist dafür Sorge zu tragen, dass entsprechende ordnungsgemäße vergaberechtliche Dokumentationen sichergestellt werden.
  • Wenn der Aufsichts- oder Verwaltungsrat selbst Kenntnis von Vorgängen innerhalb des kontrollierten Unternehmens wie im vorangehenden Punkt erlangt, untätig bleibt und seiner Kontrollfunktion damit nicht gerecht wird, bewegt er sich grundsätzlich außerhalb der Business Judgement Rule.
  • Ein Bürgermeister, der Vergaben der Gemeinde abspricht und die entsprechenden Vergaberichtlinien nicht einhält, begeht ein innerdienstliches Dienstvergehen. Sofern der Gemeinde dadurch ein substanzieller Schaden entsteht, eine strafrechtliche Verurteilung des Bürgermeisters in Rede steht und das Vertrauen der Öffentlichkeit in eine gesetzestreue Gemeindearbeit beschädigt ist, kann dies zur Entfernung aus dem Beamtenverhältnis führen (vorliegend angenommen bei einem Schaden von über EUR 50.000 und einer Verurteilung wegen Untreue zu 11 Monaten auf Bewährung ( vergabeblog.de vom 30/11/2020, Nr. 45776: Vergabewidriges Verhalten führt (mitunter) zur Entfernung aus dem Beamtenverhältnis! (VG Regensburg, Urteil vom 19.10.2020, Az. RB 10A DK 19.32).
  • Schließt der Vorstand einer Stiftung des öffentlichen Rechts ohne die erforderliche europaweite Ausschreibungen Projektsteuerungsverträge mit einem Architekturbüro ab, obwohl er über die Vergaberechtswidrigkeit seines Verhaltens informiert war und setzt sich damit über seine Kenntnisse bösgläubig hinweg, so rechtfertigt dies die Kündigung seines Anstellungsvertrags aus wichtigem Grund gemäß § 626 BGB ( LG Saarbrücken, Urteil vom 23.7.2015, Az. 4 O 346/11).
  • Unterlässt der Geschäftsführer einer GmbH eine öffentliche VOB/A-Ausschreibung, deren Notwendigkeit sich aus den einer Subventionsbewilligung zu Grunde liegenden Nebenbestimmungen (Ziffer 3 ANBest-P) ergibt, so haftet er der Gesellschaft für den aus seiner Obliegenheitsverletzung folgenden Schaden aus § 43 II GmbHG ( LG Münster, Urteil vom 18.05.2006, Az. 12 O 484/05). Darlegungs- und beweisbelastet dafür, dass der Geschäftsführer seinen Sorgfaltspflichten nachgekommen ist, ist der Geschäftsführer, (weil) der Geschäftsführer das Risiko der Unaufklärbarkeit trägt (vgl. BGHZ 152, 280 = NJW 2003, 358; OLG Hamm, NZG 1999, 1221). Er muss daher eine einwandfreie vergaberechtliche Dokumentation vorhalten, um dieser Obliegenheit nachzukommen. Das Verschulden des Geschäftsführers war auch nicht deswegen ausgeschlossen, weil er die Ausschreibung auf die Prokuristen delegiert hatte. Zum einen kann sich der Geschäftsführer zu seiner Entlastung nicht auf schuldhafte Mitverursachungsbeiträge unterstellter Mitarbeiter oder anderer Geschäftsführer berufen (vgl. OLG Köln, Urteil vom 11.07.2000, Az. 15 U 181/99). Zum anderen verbleiben dem Geschäftsführer auch nach einer erfolgten Delegation besondere Beobachtungs- und Überwachungspflichten. Derartige Kontroll- und Aufsichtspflichten bestehen im vorliegenden Fall erst recht deshalb, weil die Subventionsbewilligung für die Gesellschaft im entschiedenen Fall erkennbar von ganz besonderer wirtschaftlicher Bedeutung war. Insoweit musste der Geschäftsführer in seiner Funktion die Einhaltung der dem Bewilligungsbescheid zu Grunde liegenden Bestimmungen besonders gründlich überwachen und überprüfen. Er kann sich nicht darauf berufen, diesen Tätigkeitsbereich vollumfänglich auf die Prokuristen übertragen zu haben. Selbst auf eine Entlastung nach § 46 Nr. 5 GmbHG konnte sich der Geschäftsführer nicht erfolgreich berufen (vgl. Hommelhoff, GmbHG, § 43 Rdnr. 17; LG Münster: Schadensersatz wegen Subventionsentfall bei unterbliebener Ausschreibung).
  • Werden Führungskräfte ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein bestimmtes Vorgehen bei der öffentlichen Auftragsvergabe rechtswidrig ist, lehnen die unmittelbar mit der Durchführung betrauten Mitarbeiter die Verantwortungsübernahme ab und setzt sich die Führungskraft darüber hinweg, indem sie vergaberechtswidrig vorgeht und der Auftrag auf dieser Grundlage vergeben wird, dann dürfte sie sich in der Regel nicht mehr in dem für den entsprechenden Personenkreis durch die Business Judgement Rule gesetzten unternehmerischen Beurteilungsspielraum bewegen, haftbar gemacht haben bzw. dürfte zumindest ein Organisationsverschulden in Betracht kommen.

IV. Fazit

Vergabepflichten sind ernst zu nehmen und nicht als notwendiges Übel abzutun. Nicht nur unmittelbar, selbst und persönlich mit der Vorbereitung und Durchführung von Vergabeverfahren betraute Mitarbeiter bzw. Beschäftigte können Vergabefehler teuer zu stehen kommen, sondern ebenfalls im Wesentlichen nur mittelbar für die Vergabekonformität verantwortliche Führungskräfte; zuvörderst Organe bzw. Organmitglieder von juristischen Personen. Daher sind durch den öffentlichen Auftraggeber entsprechende Maßnahmen zur Sicherstellung und Gewährleistung der Rechtskonformität von Vergabeverfahren im eigenen Hause zu treffen. Sie haben qualifiziertes „Vergabe-Personal“ vorzuhalten, interne Vergabeprozesse samt Leitfäden, Arbeitsanweisungen und Checklisten zu implementieren. Das Personal ist vergaberechtlich zu sensibilisieren, zu schulen, fortzubilden und eine Vergabekultur ist im Haus zu fördern bzw. zu schaffen, die über die „bloße“ Einhaltung des Vergaberechts und die Vermeidung von Vergabefehler eine „ehrliche“ Akzeptanz begründet, dass öffentliche Vergabeverfahren eine Vielzahl von Vorteilen für Wettbewerb, Gleichberechtigung, Transparenz, Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit bringen.

The post Haftung von Führungskräften bzw. leitenden Angestellten bei Vergabeverstößen appeared first on Vergabeblog.

Faktencheck Vergabemathematik: Frühjahrsdiät – Weg mit überflüssigen Gewichten

0
0

EntscheidungIm letzten Faktencheck Vergabemathematik (s. Vergabeblog.de vom 22/01/2024, Nr. 55542) wurde nachgewiesen, dass man bei der Zuschlagsformel Z = L/P nicht sinnvoll von einer Gewichtung, und schon gar nicht von einer 50 %-Gewichtung sprechen kann. Aber ist es möglich, das anderweitig umzusetzen?

Die Einfache Richtwertmethode mit Gewichtung

Sehen wir uns dazu folgende Zuschlagsformel Z(A) für ein Angebot A mit L(A) Leistungspunkten und einem Wertungspreis von P(A) mal näher an:

ωL stellt die „Gewichtung“ der Leistung dar, ωp diejenige des Preises. Dabei soll gelten: ωL + ωp = 1.

Beispielsweise könnte man die Leistung mit 40 % gewichten und hätte damit folgende Zuschlagsformel:

Oder man wertet den Preis mit 30 %:

Rechnet die Formel richtig?

Nun kann man sich die Frage stellen, ob die Gewichtung bei der Berechnung von Z überhaupt korrekt berücksichtigt wird. Dazu sehen wir uns ein Angebot mit L(A) = 5.000 Punkte (analog zur UfAB, wo ein Angebot bis zu 10.000 Punkte erreichen kann) und P(A) = 10.000 Euro als Wertungspreis an. Bei einer Gewichtung von ωL = 60 % ergibt sich für dieses Angebot eine Zuschlagkennzahl Z(A) (bei einer Skalierung mit dem Faktor 10, den wir der besseren Lesbarkeit halber einfügen):

Wenn wir prüfen wollen, ob die Gewichtung  bei der Berechnung von Z korrekt berücksichtigt wird, dann müssen wir mit die Leistungskennzahl nach oben und unten variieren und sehen, wie (stark) die Zuschlagkennzahl Z darauf reagiert. Sehen wir uns also mal die resultierenden Z-Werte an, wenn man L von 1.000 bis 10.000 verändert:

1000 2000 3000 4000 5000 6000 7000 8000 9000 10000
60 % 1,5 3,00 4,50 6,00 7,50 9,00 10,50 12,00 13,50 15,00

Wie man sieht, verändert sich das (skalierte) Z immer um den Wert 1,5, wenn man L um 1000 verändert. 1,5 ist aber gerade das Verhältnis von 60 % zu 40 %, also die Gewichtung der Leistung im Verhältnis zur Gewichtung des Preises. Und das ist das gewünschte Verhalten der Gewichtung.

Wir können uns das auch für andere Gewichtungen von L ansehen, siehe folgende Tabelle:

1000 2000 3000 4000 5000 6000 7000 8000 9000 10000
30 % 0,43 0,86 1,29 1,71 2,14 2,57 3,00 3,43 3,86 4,29
40 % 0,67 1,33 2,00 2,67 3,33 4,00 4,67 5,33 6,00 6,67
50 % 1,00 2,00 3,00 4,00 5,00 6,00 7,00 8,00 9,00 10,00
60 % 1,5 3,00 4,50 6,00 7,50 9,00 10,50 12,00 13,50 15,00
70 % 2,33 4,67 7,00 9,33 11,67 14,00 16,33 18,67 21,00 23,33

Beispielsweise ergibt sich für eine Gewichtung der Leistung von 30 % jeweils eine Steigerung um den Wert 0,43 (gerundet) je 1.000 Leistungspunkten, also genau dem Gewichtungsverhältnis 30 % zu 70 %.

Den resultierenden Steigerungswert je nach Gewichtung kann man übrigens immer bequem in der zweiten Spalte (zu L=1.000) ablesen.

Folgende Abbildung visualisiert die Rechenergebnisse der letzten Tabelle:

Je höher die Gewichtung von L ist, umso steiler steigt die Gerade, die die Abhängigkeit der Zuschlagkennzahl Z vom Leistungskennwert L zeigt. Die Steigung der einzelnen Geraden ist gleichzeitig das Gewichtungsverhältnis zwischen L und P.

Zwischenfazit

Die Einfache Richtwertmethode mit Gewichtung berücksichtigt für die Berechnung der Zuschlagskennzahl Z die Gewichtung der Leistung (im Verhältnis zur Gewichtung des Preises) korrekt!

Grenzen der Gewichtung

Bei vielen Schulungen frage ich die Teilnehmer, welche der folgenden Formeln besser, schlechter oder überhaupt nicht gut als Zuschlagsformel geeignet wäre:

Die vier Formeln unterscheiden sich also nur im Gewichtungsverhältnis von L und P.

Im Mittel ergibt sich aus diesen Umfragen in etwa folgende (subjektive) Einschätzung der Schulungsteilnehmer:

Würden Sie diese Einschätzung teilen? Die Formeln mit den extremen Gewichtungen von 1 % bzw. 99 % werden von den Schulungsteilnehmern gefühlsmäßig rundheraus abgelehnt. Die Formel mit der 70 %-Gewichtung kommt ein stückweit besser weg als die Formel mit der (expliziten) 50 %-Gewichtung (und das war schon so vor dem Erscheinen des ersten Faktencheck Vergabemathematik Artikels, Vergabeblog.de vom 22/01/2024, Nr. 55542).

Sehr viele Teilnehmer haben regelmäßig zum Teil sehr alte Beschlüsse im Hinterkopf, dass der Preis beispielsweise eine Mindestgewichtung von 30 % haben solle (OLG Dresden, Beschlüsse vom 05.01.2001 – WVerg 0011/00 und WVerg 0012/00).

Auf was kommt es am Ende an?

Ziel der obigen rechnerischen Übung ist es aber letztlich, nicht riesige Rechenwerke und Tabellen aufzustellen. Sondern eine Rangfolge der wertungsfähigen Angebote zu bilden, um das wirtschaftlichste Angebot zu identifizieren. Hilfsweise bedient man sich dazu der Berechnung einer Zuschlagskennzahl Z. Die Zuschlagskennzahl Z soll die Wirtschaftlichkeit repräsentieren; das Angebot mit der höchsten Zuschlagskennzahl erhält den Zuschlag, d. h. die Rangfolge bestimmt sich aus der Zuschlagskennzahl Z.

Sehen wir uns das mal anhand des Beispiels aus der UfAB 2018 an, welches dort einheitlich und seit mindestens 20 Jahren (seit der UfAB III) verwendet wird:

Für dieses UfAB-Beispiel berechnen wir die Rangfolgen bei verschiedenen Gewichtungsverhältnissen zwischen L und P.  Die erste Zeile der folgenden Tabelle zeigt die Gewichtung von L; die Gewichtung von P ist dann die Differenz auf 100 %. Der jeweilige Zelleneintrag zeigt den Rang des jeweiligen Angebots bei der entsprechenden Gewichtung von L:

Es stellt sich heraus, dass die Gewichtung von L in diesem Beispiel überhaupt keinen Einfluss auf die Rangfolge der Angebote nimmt!

Und man kann sehr leicht mathematisch zeigen, dass dies bei der Einfachen Richtwertmethode mit Gewichtung immer so ist. Denn man kann die Formel einfach umschreiben zu:

Denn dann sieht man sofort, dass ωL / ωp einfach nur eine konstante Zahl in der Zuschlagsformel ist, nämlich das Gewichtungsverhältnis von L und P. Damit ist diese konstante Zahl aber nichts anderes als eine Skalierung der Zuschlagsformel, ähnlich wie wir sie im Eingangsbeispiel dieses Artikels schon verwendet hatten (dort hatten wir mit der Zahl 10 skaliert). Diese Konstante ist für alle Angebote identisch. Daher ändert sich nichts an der Rangfolge der Angebote – egal, welche Gewichtungsfaktoren man wählt!

Beispielsweise ergibt sich aus einer Gewichtung von 60 % für L ein Gewichtungsverhältnis von 60 % zu 40 %, also 60 % / 40 % = 1,5 als konstante Zahl / Skalierungsfaktor, also die Steigerungszahl aus dem ersten Beispiel dieses Artikels.

Wirkt nicht über den Placeboeffekt hinaus

Einige Leserinnen und Leser haben bereits zu Beginn des Artikels „den Braten gerochen“, dass ich eine Formel vorgestellt habe, bei der die Gewichtung von Leistung und Preis überhaupt keinen Einfluss auf die Rangfolge der Angebote nimmt, sondern bestenfalls einen psychologischen Effekt bewirkt. Ich hatte aber dazu auch die allereinfachste und offensichtlichste Zuschlagsformel gewählt. Und wie die Umfragen in meinen Schulungen häufig zeigen, ist die Wirkungslosigkeit der Gewichtung selbst bei diesen Formeln für sehr viele Personen eben nicht so offensichtlich erkennbar.

Wenn das schon bei einer sehr einfachen Formel gar nicht mal so einfach zu erkennen ist, wie soll man dann bei komplexeren Zuschlagsformeln wie der Interpolationsmethode oder der UFAB-II Formel erkennen können, ob bzw. welchen Einfluss die dort verwendeten Gewichtungskoeffizienten auf die Rangfolge haben? Umso mehr, als die Formeln selbst bei identischen Gewichtungskoeffizienten zu verschiedenen Rangfolgen der Angebote führen können (siehe dazu das erste Beispiel aus dem letzten Faktencheck Vergabemathematik, Vergabeblog.de vom 22/01/2024, Nr. 55542). Wir verwenden dann scheingenaue Formulierungen wie z.B. „Der (Wertungs-)Preis wird mit 60 % berücksichtigt.“, ohne auch nur ansatzweise sagen zu können, wie sich ein Gewichtungskoeffizient für den Preis tatsächlich auf die Rangfolge der Angebote auswirkt. Beträgt die Auswirkung dann also wirklich 60 %? Oder nur 54,7 %. Oder gar 87,1 %. Oder vielleicht nur 2,7 %?

Durch solch eine Angabe von scheinbaren Gewichtungsverhältnissen zwischen Leistung und Preis oder Verwendung entsprechender Gewichtungskoeffizienten in Zuschlagsformeln gaukelt sich der Auftraggeber nicht nur selbst, sondern auch den Bietern falsche Tatsachen vor! Niemand ist in der Lage, eine tatsächliche Höhe der Gewichtung des Preises bei der Rangfolgebildung der Angebote zu beziffern.

Praxistipp

Trauen Sie keinen Zuschlagsformeln mit angeblicher Gewichtung zwischen Leistung und Preis, und schon gar nicht den Werten der Gewichtungskoeffizienten in solchen Formeln. Zumindest so lange Sie nicht restlos verstanden haben, wie sich diese Koeffizienten (scheinbare Gewichtungsangaben) tatsächlich auf die Rangfolge der Angebote auswirken.

The post Faktencheck Vergabemathematik: Frühjahrsdiät – Weg mit überflüssigen Gewichten appeared first on Vergabeblog.

Unvollständiges Befüllen des Formblatts 223 führt regelmäßig zum Ausschluss! (VK Bund, Beschl. v. 19.10.2023 – VK2-78/23)

0
0
Bauleistungen

EntscheidungDer öffentliche Auftraggeber kann sich in die Anforderung des Formblatts 223 (Aufgliederung der Einheitspreise) nach Angebotsabgabe vorbehalten. Die Aufgliederung der Einheitspreise betrifft auch solche Leistungen, für deren Ausführung Nachunternehmer vorgesehen sind. Dies ist nicht unverhältnismäßig. Wird das Formblatt 223 nur teilweise ausgefüllt, fehlen die geforderten Angaben bzw. Erklärungen. Eine Nachforderung der unterbliebenen Angaben kommt in diesem Fall nicht in Betracht. Denn die Möglichkeit der Nachforderung besteht nur in Bezug auf Unterlagen, die bereits mit dem Angebot einzureichen sind.

§§ 15 EU Abs. 2 VOB/A, 16 EU Nr. 4 S. 1 VOB/A, 16a EU Abs. 1 S. 2 VOB/A, § 16d Abs. 1 Nr. 2 VOB/A

Sachverhalt

Die Antragsgegnerin des Nachprüfungsverfahrens hatte im Rahmen der Durchführung eines nichtoffenen Vergabeverfahrens als einziges Zuschlagskriterium den Preis vorgesehen. Im Zuge der Prüfung des preisgünstigsten Angebotes der Antragstellerin stellte die Antragsgegnerin erhebliche Abweichungen hinsichtlich des Angebotspreises von der Schätzung des Angebotspreises bzw. von weiteren eingegangenen Angeboten fest.

In der Aufforderung zur Angebotsabgabe enthalten war die Vorgabe, dass die Aufgliederung der Einheitspreise entsprechend dem Formblatt 223 auf Verlangen der Vergabestelle ausgefüllt vorzulegen ist. Das Dokument enthielt dabei u.a. eine Fußnote, die für die zu befüllenden Spalten Zeiteinsatz, Lohn, Material, Geräte und sonstige Kosten Folgendes vorgab:

„Ist bei allen Teilleistungen anzugeben, unabhängig davon, ob sie der Auftragnehmer oder ein Nachunternehmer erbringen wird.“

Auf Grund der festgestellten erheblichen Abweichung bat die Antragsgegnerin die Antragstellerin das Formblatt 223 innerhalb einer gesetzten Frist vorzulegen. Daraufhin übermittelte die Antragstellerin das Dokument auch fristgerecht. Das durch die Antragstellerin übermittelte Dokument wich jedoch hinsichtlich Formatierung und Inhalt von den Vorgaben des durch die Antragsgegnerin bereit gestellten Dokuments ab. Dies fiel der Antragsgegnerin im Rahmen der Prüfung auf. Nach ihrer Ansicht genügten die in dem Formblatt gemachten Angaben mithin nicht den auftraggeberseitig angeforderten Informationen. So kam die Antragsgegnerin zu dem Ergebnis, dass das Angebot der Antragstellerin wegen Nichtvorlage nach § 16 EU Nr. 4 VOB/A und wegen einer verweigerten Auskunft nach § 15 EU Abs. 2 VOB/A auszuschließen sei.

Der auf die Benachrichtigung der Antragstellerin über den beabsichtigten Zuschlag zu Gunsten der Beigeladenen erfolgten Rüge wurde nicht abgeholfen. Mit dem daraufhin durch die Antragstellerin beantragten Nachprüfungsverfahren hatte sich die Vergabekammer des Bundes zu befassen.

Die Entscheidung

Das angestrengte Nachprüfungsverfahren erwies sich als erfolglos!

Der Nachprüfungsantrag ist zwar zulässig, jedoch unbegründet. Denn das Angebot der Antragstellerin ist zu Recht nach § 16 EU Nr. 4 VOB/A ausgeschlossen worden. So durfte sich die Antragsgegnerin die Anforderung des Formblatts 223 nach Angebotsabgabe wegen mangelnder Unverhältnismäßigkeit wirksam vorbehalten. Die Einheitspreisaufschlüsselung ist auch im Hinblick auf Nachunternehmerleistungen möglich.

Darüber hinaus erfolgte die Anforderung bei der Antragstellerin auch nicht willkürlich, sondern ebenfalls zulässigerweise. So stellte das Angebot der Antragstellerin das mit dem niedrigsten Preis dar. Dieser Preis lag auch deutlich unter der Auftragswertschätzung der Antragsgegnerin, als auch unter dem nachfolgenden Angebot der Beigeladenen. Daher durfte die Antragsgegnerin von der Erforderlichkeit einer Preisprüfung nach § 16d EU Abs. 1 VOB/A ausgehen.

Weiterhin stellt die Vergabekammer die zwischen den Parteien unstreitige Unvollständigkeit in weiten Teilen fest. Durch die Nicht-Eintragung der geforderten Angaben bzw. Erklärungen fehlen diese im Sinne von § 16 EU Nr. 4 S. 1 VOB/A. Für ein Fehlen genügt demnach auch die nicht vollständig vorgenommene Eintragung. Hierbei sah die Vergabekammer nicht das Formblatt 223 an sich als abzugebende Erklärung an, sondern vielmehr die Vielzahl einzutragender Einzelerklärungen.

Auch eine Nachforderung unterbliebener Angaben lehnte die Vergabekammer ab. Nach § 16 EU Nr. 4 S. 1 VOB/A erfolgt keine Nachforderung, wenn die Erklärungen erst auf gesondertes Anfordern nach Angebotsabgabe einzureichen sind. Auch § 15 EU Abs. 3 VOB/A bietet dazu keine taugliche Grundlage. Um den Fehler zu heilen, müsste das Formblatt 223 um die fehlenden Preisangaben ergänzt werden. Die Vervollständigung einer unvollständigen Preisaufschlüsselung geht über eine bloße Aufklärung hinaus.

Der Ausschluss war überdies auch nach § 15 EU Abs. 2 VOB/A erforderlich. Ein Angebot ist demnach dann auszuschließen, wenn ein Bieter geforderte Angaben nicht binnen der hierfür gesetzten angemessenen Frist erteilt, was hier der Fall gewesen ist. Entgegenstehende Vertrauensschutz-gesichtspunkte infolge einer abweichenden Verwaltungspraxis der Antragsgegnerin waren für das Gericht nicht ersichtlich.

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung der Vergabekammer des Bundes ist vergaberechtlich nachvollziehbar und zutreffend.

Unstreitig behielt sich die Antragsgegnerin die Anforderung des vollständig ausgefüllten Formblattes 223 vor. Mit der Feststellung, dass die Einheitspreisaufschlüsselung auch bezüglich Nachunternehmerleistungen wirksam ist, folgte die VK Bund der Ansicht des OLG Düsseldorf (Beschluss vom 19.05.2021 – Verg 13/21). Einleuchtend ist dabei die Argumentation, dass der Bieter vergaberechtlich dem Auftraggeber gegenüber für seinen Nachunternehmer einstehen muss. Denn Bezugspartner ist im Rahmen der Vertragsanbahnung der Bieter, nicht sein Nachunternehmer.

Gleichsam folgt die Vergabekammer der Auffassung des OLG Düsseldorf (Beschluss vom 19.05.2021 – Verg 13/21) dahingehend, dass ein Fehlen im Sinne des § 16 EU Nr. 4 S. 1 VOB/A nicht nur dann gegeben ist, wenn ein gefordertes Dokument in Gänze nicht eingereicht wird, sondern auch im Falle nicht vollständig vorgenommener (einzelner) Eintragungen. Hierbei stellt die Vergabekammer zutreffender Weise fest, dass nicht das gesamte Formblatt die abzugebende Erklärung darstellt, sondern das Formblatt aus einer Vielzahl einzutragender Einzelerklärungen besteht. Dies wird auch dadurch getragen, dass die Antragsgegnerin gerade auf ein vollständiges Ausfüllen des Formblattes besteht. Erfolgt nur eine unvollständige Angabe, ist die Preisbildung für den Auftraggeber nicht nachvollziehbar.

Hierbei differenziert die Vergabekammer auch richtigerweise zwischen der vorliegend auszufüllenden Tabelle und der Darlegung eines Fließtextes. In der durch die Antragstellerin vorgetragenen Entscheidung des OLG Düsseldorf (18.09.2019 – VII-Verg 10/19) handelte es sich nach zutreffender Ansicht der Vergabekammer nämlich um keine unvollständige, sondern eine vollständige, inhaltlich aber ggf. unzureichende Erklärung.

Für die Relevanz der einzelnen Information spricht die Nachvollziehbarkeit der Preisbildung. Überdies fehlten hier nicht nur wenige einzelne Angaben, sondern vielmehr der Großteil der Angaben. So wurden von den insgesamt 25 eingereichten Seiten etwa 20,5 Seiten nicht ausgefüllt. Das eingereichte Formular ist folglich auch insgesamt in weiten Teilen unvollständig. Insofern handelt es sich nicht nur um eine inhaltlich unzureichende Erklärung. Auf Grund dieses Umfangs kann auch von einem Fehlen im Sinne des § 16 EU Nr. 4 S. 1 VOB/A ausgegangen werden.

Überdies lehnt die Vergabekammer die Nachforderung der unterbliebenen Angaben ab. Schlüssig und dem OLG Düsseldorf (Beschluss vom 17.02.2016 – Verg 37/14) folgend, argumentiert die Vergabekammer, dass die Nachforderungsmöglichkeit nur in Bezug auf Unterlagen eröffnet ist, die mit dem Angebot einzureichen sind, stehen Bieterunternehmen im Rahmen der Angebotserstellung doch regelmäßig unter hohem Zeitdruck. Dieser Zeitdruck besteht bei der Anforderung von Erklärungen nach Angebotsabgabe hingegen nicht mehr. Dieser Rechtsgedanke ist auch Telos des Ausschlusses von Nachforderungen nach § 16 EU Nr. 4 S. 1 VOB/A (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 17.02.2016 – Verg 37/14).

Zutreffend lehnt die Vergabekammer eine Ergänzung des Formblattes nach § 15 EU Abs. 3 VOB/A ab. Denn die Vervollständigung des Formblattes geht tatsächlich deutlich über eine bloße Aufklärung wie sie die Norm gestattet hinaus. So ist die Norm als Ausnahmevorschrift eng auszulegen (vgl. Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Auflage 2020, § 15 EU VOB/A, Rn. 5).

Praxistipp

Die Entscheidung beleuchtet ein klassisches Problem bei heutigen Bauvergaben. Bieter haben geforderte Informationen , deren Anforderung  sich der Auftraggeber explizit vorbehalten hat, vollständig und lückenlos nachzukommen. Fehlt etwas, gibt es keine zweite Chance; die Nachforderung ist in diesem Fall explizit verboten (§ 16a EU Abs. 1 Satz 2 VOB/A). Dies liegt auch im Hinblick auf die Preisaufschlüsselung bei Nachunternehmern nicht anders. Gerade im Rahmen der schematischen Angabe in einer Tabelle, können die einzeln auszufüllenden Tabellenfelder für sich genommen Einzelerklärungen darstellen, deren Fehlen regelmäßig einen zwingenden Ausschluss nach § 16 EU Nr. 4 S. 1 VOB/A nach sich zieht.

Dass das hier in Rede stehende Formblatt 223 in der Praxis durchaus umstritten ist (weil als unverhältnismäßig erachtet) und bei Bauunternehmen äußerst unbeliebt (weil mit erheblichem Aufwand und Risiko verbunden), ändert daran nichts. Die Rechtslage ist eindeutig und ermöglicht es dem Auftraggeber bei entsprechendem Vorbehalt mittels des Formblatts 223 nachzufassen, wenn die Preisabweichungen beim Gesamtpreis bzw. bei diversen Einheitspreispositionen dies gebieten. Eine andersgeartete dann vergaberechtswidrige Verwaltungspraxis kann dem nicht entgegenstehen und zwar unabhängig davon, dass sich die VK Bund damit am Ende ihres Beschlusses durchaus intensiv auseinandersetzt.

The post Unvollständiges Befüllen des Formblatts 223 führt regelmäßig zum Ausschluss! (VK Bund, Beschl. v. 19.10.2023 – VK2-78/23) appeared first on Vergabeblog.

Neuer Evergreen? Deutsche Tochter mit US-Mutter (VK Bund, Beschl. v. 20.06.2023 – VK 2-34/23)

0
0
Liefer- & DienstleistungenUNBEDINGT LESEN!

EntscheidungMit ihrem Beschluss vom 20. Juni 2023, Aktenzeichen VK 2-34/23, ging die 2. Vergabekammer des Bundes in die nächste Runde und betonte, wie auch schon in ihrem Beschluss vom 13.02.2023, VK 2-114/22 (siehe hierzu Hartwecker, in Vergabeblog vom 05/06/2023, Nr. 53478), dass grundsätzlich ein Vertrauen in deutsche Unternehmen mit ausländischen Muttergesellschaften besteht. Gleichzeitig unterstreicht die Kammer jedoch die Verantwortung der Auftraggeber, vor der Vergabe von Aufträgen eine umfangreiche und detaillierte Prüfung sicherzustellen.

Leitsätze

  1. Die Integration einer in Deutschland ansässigen Tochtergesellschaft eines US-amerikanischen Mutterkonzerns als Hosting-Dienstleister durch einen Bieter braucht den Auftraggeber nicht per se dazu veranlassen, die Umsetzbarkeit des Leistungsversprechens infrage zu stellen. (Anschluss an VK Bund, Beschluss vom 13.02.2023 – VK 2-114/22 und OLG Karlsruhe, Beschluss vom 07.09.2022 – 15 Verg 8/22).
  2. Hat der Auftraggeber Zweifel an der Einhaltung der auftraggeberseitigen Vorgaben, hat er dies aufzuklären, um sicherzustellen, dass nur ein leistungsgemäßes Angebot bezuschlagt wird. Ein Verlassen auf vertragliche Sanktionsmechanismen, die die nicht ordnungsgemäße Leistungserbringung abstraft, wird dem vergaberechtlichen Wettbewerb nicht gerecht.

Sachverhalt

Die Antragsgegnerin gab eine Bekanntmachung für ein offenes Verfahren in europaweiter Ausschreibung zur Beschaffung von Reisebüroleistungen heraus. Die Kriterien für die Zuschlagserteilung umfassten den Preis (bis zu 30 Leistungspunkte) sowie die erwartete Qualität der Leistung anhand der vorgelegten Konzepte (bis zu 70 Leistungspunkte).

Ziff. 3. der Leistungsbeschreibung definiert das Anforderungsprofil für die zu beschaffenden Reisebürodienstleistungen, die in Basisleistungen (Ziff. 3.1) und Zusatzleistungen (Ziff. 3.2) aufgeteilt sind. Ziff. 3.15 enthält für die Basisleistungen folgende Vorgabe:

3.1.5 Datenhaltung: Alle Datenhaltungen inklusive Back Office Systeme erfolgt auf Servern in der EU, idealerweise in Deutschland.

Gemäß § 11 des bei den Vergabeunterlagen befindlichen Vertragsentwurfs sollte u.a. folgendes vereinbart werden:

„(1) Die Auftragnehmerin ist gesetzlich zur Einhaltung des Datenschutzes verpflichtet. …

Sowohl die Antragstellerin als auch die förmlich zum Nachprüfungsverfahren hinzugezogene Beigeladene gaben jeweils ein Angebot ab. Die Beigeladene erklärte in ihrem Angebotsschreiben, sie biete

„… zu den in den Vergabeunterlagen aufgeführten Bedingungen … die ausgeschriebene Leistung an. Mein Angebot entspricht den Vorgaben der Vergabeunterlagen. …“

Die Antragstellerin unterlag mit ihrem eingereichten Angebot und rügte daraufhin ihre eigene Konzeptbewertung und die beabsichtigte Bezuschlagung der Beigeladenen, u.a. mit dem Hinweis auf datenschutzrechtliche Verstöße der Beigeladenen. Die Antragsgegnerin informierte die Beigeladene über die Rüge und bat um Stellungnahme zu den vorgeworfenen, datenschutzrechtlichen Verstößen. Die Beigeladene ging in ihrer Stellungnahme lediglich auf die Wertung der Konzepte der Antragstellerin ein, beantwortete jedoch nicht die vorgeworfenen, datenschutzrechtlichen Verstöße.

Nach erneuter Bewertung verblieb das Angebot der Antragstellerin immer noch hinter dem der Beigeladenen, woraufhin die Antragsgegnerin die Antragstellerin erneut nach § 134 GWB informierte.

Am 17. April 2023 rügte die Antragstellerin erneut die beabsichtigte Zuschlagserteilung an die Beigeladene, deren Eingang die Antragsgegnerin bestätigte und eine weitere Analyse der Konzepte ankündigte.

Am 20. April 2023 beantragte die Antragstellerin die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens. Der Nachprüfungsantrag wurde am 21. April 2023 von der Vergabekammer an die Antragsgegnerin übermittelt.

In ihrem Nachprüfungsantrag machte die Antragstellerin die Missachtung von § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV durch die Antragsgegnerin im Zusammenhang mit dem Datenschutz geltend. Sie argumentierte, dass das Angebot der Beigeladenen nicht den Anforderungen zur Einhaltung des Datenschutzrechts – wie in Ziffer 3.1.5 der Leistungsbeschreibung bzw. § 11 Abs. 1 des Vertrags festgelegt – entspreche. Die Beigeladene, als GmbH und Tochtergesellschaft eines US-amerikanischen Mutterkonzerns, habe in ihrem Angebot die Übermittlung personenbezogener Daten in Drittländer, insbesondere in die USA oder nach Großbritannien, vorgesehen. Diese Übermittlung erfordere gemäß den Art. 44 ff., Art. 32 Abs. 1, 2 und Art. 5 Abs. 1 lit. f) DSGVO ein erhöhtes Datenschutzniveau.

Weiter beanstandete sie, dass weder die Beurteilung der Angemessenheit gemäß Art. 44 DSGVO noch die Sicherstellung eines ausreichenden Datenschutzniveaus gemäß Art. 46 DSGVO die vorgesehene Datenübermittlung seitens der Beigeladenen rechtfertigen würden. Diese Beanstandung sei einerseits auf die „Binding Corporate Rules“ (BCR) der Beigeladenen zu stützen, die eine Datenweitergabe innerhalb des Konzerns ermöglichen und Grundlage für die Übermittlungen personenbezogener Daten in Drittländer nach Art. 46 Abs. 2 lit. b) DSGVO sein soll. Andererseits stütze die Verwendung eines Preisvergleichstool, das derzeit ausschließlich auf Servern in den Vereinigten Staaten betrieben werde, die Beanstandung. Darüber hinaus befänden sich die maßgeblichen, für die Auftragsausführung verantwortlichen Personen teilweise außerhalb der Europäischen Union, nämlich in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Indien.

In Anbetracht dieser Umstände ist die Antragstellerin der Ansicht, dass die Verarbeitung der im Rahmen dieses Prozesses anfallenden personenbezogenen Daten zwangsläufig und hauptsächlich über unsichere Drittländer im Sinne des Art. 44 DSGVO erfolge. Zudem fehle es an angemessenen Garantien für einen datenschutzrechtskonformen Transfer in die USA, da sich die Beigeladene nicht auf die von der Beigeladenen herangezogenen Standardvertragsklauseln der EU-Kommission gemäß Art. 46 Abs. 2 lit. c) DSGVO berufen könne.

Die Entscheidung

Die 2. VK Bund hielt den Nachprüfungsantrag im Hinblick auf eine fehlerhaft vorgenommenen Aufklärung gem. § 15 Abs. 5 S. 1 VgV insofern für begründet, als sich aus den möglichen datenschutzrechtlichen Verstößen ein Ausschlussgrund wegen Änderungen oder Ergänzungen an den Vergabeunterlagen nach § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV ergeben könnte.

Die 2. VK Bund hob zunächst hervor, dass die AG grundsätzlich dem Leistungsversprechen des Bieters trotz Konzernverbindung zu einer US-Mutter vertrauen dürfe. Aus der Tatsache als solcher, dass es sich bei der Beigeladenen um ein Unternehmen mit britisch/us-amerikanischer Gesellschafterstruktur handelt, folge entgegen der Darlegungen der Antragstellerin zur Einbindung in eine Konzernstruktur nichts anderes. Die Beigeladene ist eine GmbH nach deutschem Recht und unterliegt der nationalen Rechtsordnung. Die von der Rechtsordnung vorgegebenen Bestimmungen der DSGVO habe die Beigeladenen – was nach § 128 GWB ganz generell und unabhängig von den Vorgaben des streitgegenständlichen Vergabeverfahrens auch vergaberechtlich beachtlich ist – daher einzuhalten.

Die Vergabekammer erkannte an, dass die Beigeladene ihrem Angebot zugesagt habe, die Vorgaben der DSGVO einzuhalten. Darüber hinaus habe sie sich verpflichtet, gemäß Ziffer 3.1.5 der Leistungsbeschreibung die Datenhaltung in der EU zu beachten, idealerweise in der Bundesrepublik Deutschland. Es bestehe grundsätzlich kein Zweifel daran, dass die Beigeladene in der Lage sei, die Datenschutzregeln und die Datenhaltung in der EU zu gewährleisten.

Soweit die Antragstellerin befürchte, dass die Geschäftsführung der Beigeladenen aufgrund des US-amerikanischen Sicherheitsrechts, insbesondere des US-CLOUD Act oder der FISA 702, möglicherweise angewiesen werden könnte, personenbezogene Daten zweckwidrig herauszugeben, könne nicht per se davon ausgegangen werden, dass die Beigeladene sich den Datenschutzpflichten widersetze. Gemäß Artikel 48 der DSGVO wäre eine solche Datenübermittlung ohne entsprechendes Ersuchen einer drittstaatlichen Behörde unzulässig. Die Vergabekammer führt aus, dass eine konzerninterne Weisung, die gegen gesetzliche Pflichten verstößt, nach § 43 Absatz 1 GmbHG rechtswidrig wäre und daher nicht befolgt werden dürfe. Damit bestehe kein Anlass anzunehmen, dass die Beigeladene von den Vorgaben des Vertrages abweiche (Anschluss an: 2. Vergabekammer des Bundes, Beschluss vom 13. Februar 2023, VK 2-114/22 und OLG Karlsruhe, Beschluss vom 7. September 2022, 15 Verg 8/22;).

Aber: Gleichzeitig erkannte die Vergabekammer jedoch die Notwendigkeit zusätzlicher Aufklärung bezüglich des Angebots der Beigeladenen. Denn aus allgemein zugänglichen datenschutzrelevanten Mitteilungen der Beigeladenen (insb. aus Auszügen ihres öffentlichen Internetauftritts) ergäben sich nach Einschätzung der Vergabekammer Unsicherheiten in Bezug auf ihr Leistungsversprechen:

Es bestehe nach Ansicht der Vergabekammer insoweit Klärungsbedarf, inwieweit die Binding Corporate Rules während der Auftragsausführung durch die Beigeladene relevant seien und tatsächlich das erforderliche Datenschutzniveau gewährleisten können. In den BCR wird eine konzerninterne Übermittlung bzw. Verarbeitung personenbezogener Daten aus der EU in Drittländer, einschließlich der USA, wo sich nach dieser Erklärung der Hauptserver des Konzerns befindet, für möglich gehalten. Die Vergabekammer führt dazu aus, dass die Beigeladene weder näher konkretisiert noch die Antragsgegnerin näher geprüft oder hinterfragt habe, ob vor diesem Hintergrund das Angebot konkret mit den datenschutzrechtlichen Anforderungen der DSGVO und damit den Anforderungen aus den Vergabeunterlagen vereinbar sein konnte. Die Beigeladene habe in ihren Stellungnahmen jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass Datenübermittlungen an unsichere Drittstaaten bzw. Drittstaaten ohne Angemessenheitsbeschluss im Auftragsfall anfallen können. Auf dieser Tatsachengrundlage konnte die 2. VK Bund jedenfalls nicht feststellen, ob das Angebot der Beigeladenen nach § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV wegen Abänderung oder Abweichens von den Vorgaben der Vergabeunterlagen auszuschließen sei.

Auch die Antwort der Beigeladenen auf die Aufklärungsverfügung der Vergabekammer konnte ebenso wenig die Zweifel eines nicht den Vergabeunterlagen entsprechenden Leistungsversprechens ausräumen. Die Antwort der Beigeladenen auf die Frage zur Anwendung der Standarddatenschutzklausel: „Deren Inhalt umfasst potenziell auch weitere ergänzende Maßnahmen, die im konkreten Einzelfall zu ermitteln und zu implementieren sind, um etwaige Rechtsschutzlücken im Drittland zu schließen und die Einhaltung des unionsrechtlichen Schutzniveaus zu gewährleisten.“, sei dafür unzureichend. Damit sei unklar, ob das Angebot der Beigeladenen die für die Auftragsausführung geltenden datenschutzrechtlichen Anforderungen der DSGVO (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 16. Juli 2020, Rs C-311/18, Rn. 131 ff.) einhalten kann oder nicht. Dies hätte weiter aufgeklärt werden müssen.

Auch das Preisvergleichstool warf für die Vergabekammer Fragen auf. Nach Angaben der Antragstellerin nutzt die Beigeladene ein Tool, welches ausschließlich auf Servern in den USA betrieben wird. Dies war zwischen den Beteiligten auch unstreitig. Um das Tool zu verwenden, muss der gesamte Datensatz des Reisenden an die Server in den USA zunächst weitergegeben werden. Unklar und aufzuklären war damit, ob nicht sogar eine Auftragsdatenverarbeitung vorlag. Dies hätte zur Folge, dass von den konkreten Vorgaben der Vergabeunterlagen abgewichen werden würde.

Insgesamt habe die Beigeladene nach Ansicht der Vergabekammer in ihren Ausführungen zur Aufklärung lediglich allgemeine Informationen zur Einhaltung der datenschutzrechtlichen Anforderungen durch ihre konzerninternen BCR und die Nutzung von Standardvertragsklauseln sowie zur Datenhaltung in der EU gegeben, ohne die spezifischen Widersprüche aufzulösen oder konkrete Abläufe für den Auftrag zu erläutern.

Nach Ansicht der Vergabekammer blieb folglich unklar, wie das Angebot der Beigeladenen im Detail die Einhaltung der Vorgaben sicherstellen wird. Auf dieser Grundlage vermochte die Vergabekammer weder festzustellen, ob das Angebot der Beigeladenen wegen Abänderung oder Abweichens der Vorgaben in den Vergabeunterlagen gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV auszuschließen sei, noch ob der Zuschlag an dieses Angebot erteilt werden könne. Es hätte weiter aufgeklärt werden müssen.

Abschlägig beurteilte die Vergabekammer auch die Argumentation der Antragsgegnerin, dass die datenschutzrechtliche Sicherheit über die vertragliche Ebene mittels vertraglicher Sanktionsmechanismen gesichert sei. Dies komme für den vergaberechtlichen Wettbewerb zu spät.

Fazit

Die Entscheidung der 2. VK Bund bestätigt noch einmal die ebenfalls von der 2. VK Bund getroffene Entscheidung vom 13.02.2023, VK 2-114/22 (siehe hierzu Hartwecker, in Vergabeblog vom 05/06/2023, Nr. 53478) sowie die des OLG Karlsruhe, Beschluss vom 07.09.2022 – 15 Verg 8/22), dass grundsätzlich ein Vertrauen in deutsche Unternehmen mit ausländischen Muttergesellschaften besteht.

Das Vertrauen besteht zunächst so lange, wie das EU-Tochterunternehmen die Datenhaltung und -verarbeitung DSGVO-konform sowie nach den geforderten Anforderungen in den Vergabeunterlagen sicherstellt und mit dem Angebot zusichert. Dieses Vertrauen kann jedoch nach Ansicht der 2. VK Bund durch Aussagen in allgemein zugänglichen Quellen – wie der eigenen Internetpräsenz – erschüttert werden, wenn diese im Widerspruch zum eigentlichen Angebot stehen. Im Fall geschah dies durch die anschließende Antragsgegnerin, die innerhalb ihrer Rügen auf die angeblichen Missstände des Angebotes und dessen Widersprüche bei der Beigeladenen aufmerksam machte. Selbst eingereicht hatte die Beigeladenen die entgegenstehenden Informationen mit ihrem Angebot nicht. Auch deren übrige Angebotsunterlagen selbst gaben keinen Anlass für nähere Nachforschungen der Auftraggeberin. Hier sah die VK Bund dann die Aufgreifschwelle für eine nähere Aufklärung gegeben. Denn die öffentlichen Aussagen der Beigeladenen hatten nach Ansicht der VK Bund das Potential, die Vorgaben in den Vergabeunterlagen abzuändern oder von diesen abzuweichen.

Richtig ist zunächst: Ausgangspunkt für eine weitere Aufklärung des Angebotes bildet dieses selbst. Finden sich bereits in diesem Widersprüche, hat der Auftraggeber diese selbstverständlich vor Bezuschlagung auszuräumen. Werden diese nicht ausgeräumt, ist wegen Abänderung oder Abweichens von den Vergabeunterlagen auszuschließen.

Können allgemeine, öffentliche Aussagen eine weitere Aufklärung des Auftraggebers auslösen? Die Vergabekammer bejaht dies. Sie geht aber davon aus, dass die allgemeinen, öffentlichen Aussagen mit dem Angebot derart in Verbindung stehen, dass diese die konkreten Aussagen im Angebot in Zweifel ziehen. Dies kann in dieser Bestimmtheit so nicht stehen bleiben. Allgemeine, öffentliche Aussagen sollten konkrete Aussagen im Angebot grundsätzlich nicht in Zweifel ziehen können. Es bleibt an dieser Stelle unklar, warum die Beigeladene nicht in der Lage war, die allgemeinen Aussagen auszuräumen. Eine Aufgreifschwelle für eine weitere Aufklärung können und sollten die allgemeinen, öffentlichen Aussagen dennoch bilden. Hierbei sollte jedoch zunächst aufgeklärt werden, ob die allgemeinen Aussagen überhaupt im konkreten Angebot zur Anwendung kommen.

Ob die Entscheidung so bestehen bleibt, wird die sofortige Beschwerde, eingelegt beim OLG Düsseldorf unter dem Aktenzeichen VII Verg 25/23, zeigen.

Was die Entscheidung bereits schon zeigt, ist, dass das Thema EU-Tochter mit US-Mutter auch im Vergaberecht ein neuer Evergreen zu werden scheint. In einer immer weiter vernetzten Welt werden sich auch in Vergabeverfahren immer wieder Unternehmen mit Konzernverbindungen in die USA gerade im IT-Bereich beteiligen. Hier wird sich zukünftig immer u.a. die Frage stellen, ob die Daten DSGVO-konform erhoben und verarbeitet werden.


Empfehlung der Redaktion
Themen wie und Cloud-Nutzung in der öffentlichen Verwaltung und IT-Beschaffung behandeln wir auch bei unserer Tagung „IT-Vergabetag: Praxis und Perspektiven der Verwaltungsdigitalisierung – Was Deutschland voranbringt“ am 5. Juni in Berlin.
Jetzt Ticket sichern!


The post Neuer Evergreen? Deutsche Tochter mit US-Mutter (VK Bund, Beschl. v. 20.06.2023 – VK 2-34/23) appeared first on Vergabeblog.





Latest Images